Stellungnahme zur Kernlehrplanentwicklung für das Fach Englisch

Kategorien: Aktuelles, StellungnahmeVeröffentlicht: 04.03.2022

STELLUNGNAHME

des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen
(PhV NRW) 

zur Kernlehrplanentwicklung für das Fach Englisch
in der gymnasialen Oberstufe 

– Durchführung der Verbändebeteiligung gem. § 77 Abs. 3 SchulG –

I. Allgemeiner Teil

Der PhV NW nimmt im Rahmen der Kernlehrplanentwicklung der Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch nach Aufforderung durch das MSB jeweils Stellung. In einem ersten allgemeinen Teil machen wir zunächst grundsätzliche Anmerkungen zu übergeordneten Aspekten:

  1. Die neuen Kernlehrpläne für die Fächer Deutsch, Mathematik sowie Englisch und Französisch in der Gymnasialen Oberstufe sollen im Sommer 2023 in Kraft gesetzt werden. Wir begrüßen ausdrücklich, dass wir vorab die Möglichkeit erhalten, Vorschläge für Ergänzungen, Ausschärfungen und mögliche Reduktionen zu machen. Notwendig bleibt die vorgesehen reguläre Verbändebeteiligung auf Grundlage der dann von den Lehrplankommissionen vorgelegten Entwürfe, auf die wir uns konkret beziehen können.
  2. Eine ganz wichtige allgemeine Forderung ist auch auf dem Hintergrund der schon vorgelegten Entwürfe für die Fächer Biologie, Chemie und Physik, dass das Verhältnis von 25% Freiraum und 75% Obligatorik unbedingt eingehalten werden muss, um ein vertieftes Arbeiten auch im Sinne der Schülerorientierung weiterhin zu ermöglichen. Eine inhaltliche Überfrachtung ist also zu vermeiden. Ebenso muss in Hinblick auf den Umfang der inhaltlichen Schwerpunkte und Kompetenzerwartungen eine deutliche Unterscheidung von Grund- und Leistungskursen beachtet werden.

II. Fachbezogener Teil: Englisch

(A) fachbezogene Kompetenzerwartungen

Insgesamt ist der aktuell gültige Kernlehrplan für das Fach Englisch als durchaus gelungen zu betrachten. Als besonders positiv und somit beizubehalten werden folgende Punkte betrachtet:

  • Die Kompetenzorientierung an sich ist sinnvoll, da sie, so wie es im KLP formuliert ist, kein Selbstzweck ist, sondern der Kompetenzerwerb an konkrete Inhalte und Themen im Zusammenhang mit dem soziokulturellen Orientierungswissen gebunden ist (vgl. S. 15).
  • Insbesondere die Stärkung der Mündlichkeit in Form der verbindlichen mündlichen Prüfung, in der der Qualifikationsphase und fakultativ in der Einführungsphase ist ein Gewinn für den Englischunterricht und trägt nachhaltig zur Motivation der Schülerinnen und Schüler bei.
  • Auch die Sprachmittlung, die ebenfalls im Rahmen der Kompetenzorientierung einen festen Platz in einem standardorientierten und outputorientierten Englischunterricht gefunden hat, wird für sinnvoll erachtet. Für die Schülerinnen und Schüler stellt sie ein Prüfungsformat dar, mit dem sie zu einem gewissen Grad in ihrer Lebenswirklichkeit konfrontiert werden, d. h. sie erleben es als weniger artifiziell als andere Kompetenzüberprüfungen.

Allerdings gibt es auch Punkte, die im Fach Englisch verbesserungswürdig sind:

  • Im Rahmen der funktionalen kommunikativen Kompetenz wird mehrfach betont, dass das Verfügen über sprachliche Mittel dienende Funktion habe (vgl. u. a. S. 16). Ein Mindeststandard, insbesondere im Bereich Wortschatz, sollte aber formuliert werden. Auch in der Sekundarstufe II sollte Zeit für Spracharbeit – natürlich thematisch eingebettet – einberechnet werden. Diese wird im aktuellen Lehrplan zu wenig betont.
  • Die Entwicklung der Zentralabituraufgaben der letzten Jahre zeigt, dass die Anforderungen im Bereich Text- und Medienkompetenz immer unkonkreter werden. Aber gerade diese Fähigkeit, „Texte selbstständig, zielbezogen sowie in ihren historischen und sozialen Dimensionen zu verstehen und zu deuten sowie eine Interpretation zu begründen“ (S. 17), ist in heutiger Zeit von zentraler Bedeutung und sollte auf keinen Fall weiter in den Hintergrund gedrängt werden.
  • Im Zuge der Digitalisierung ist es unerlässlich, dass diese Thematik im Kernlehrplan aufgenommen und konkretisiert wird. Dabei darf diese nicht um ihrer selbst willen Einzug in den Unterricht halten, sondern der fachdidaktische Mehrwert muss deutlich hervorgehoben werden. Dabei ist zu differenzieren, ob es um den Einsatz von Medien im Unterricht oder aber um Medien und Mediengebrauch als Reflexionsgegenstand geht.

(B) im Bereich der fachlichen Inhaltsvorgaben im Fach Englisch

Folgende Inhaltsvorgaben haben sich bewährt und sollten beibehalten werden:

  • Nigeria als neue Bezugskultur hat sich nach anfänglicher Skepsis und Zurückhaltung seitens der Kolleginnen und Kollegen als Bereicherung erwiesen, da das Land eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Themen bietet und über einen reichhaltigen literarischen Kanon verfügt. Perspektivisch wäre es zu begrüßen, wenn über ein roulierendes Prinzip weitere Bezugskulturen in den Blick genommen würden, um der Vielfalt der anglophonen Kulturen gerecht zu werden.
  • Gut ist ebenfalls, dass – im Gegensatz zu früher – keine literarischen Werke obligatorisch vorgegeben sind. Dieser Freiraum ist für die Kolleginnen und Kollegen entlastend und ermöglicht es, zumindest in einem kleinen Bereich eigene Entscheidungen und Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. Für diejenigen, die sich mit dieser Freiheit schwertun, wäre es hilfreich, jährlich zu aktualisierende bzw. zu erweiternde Hinweise auf mögliche Lektüren mit Literaturhinweisen zu veröffentlichen.

Kritik gibt es an folgenden Punkten:

  • Die interdisziplinäre Verknüpfung des Faches Englisch mit Fächern aus den gesellschaftswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aufgabenfeldern ist zu begrüßen. Allerdings dominieren die Themen aus diesen Bereichen bei den Inhaltsvorgaben, sodass die literarisch, ästhetische Dimension (vgl. S. 12) Gefahr läuft, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Dieser Ansatz benachteiligt Schülerinnen und Schüler, die sich gerne auch mit ästhetischen und philosophischeren Fragestellungen auseinandersetzen. Gerade diese bieten aber für die interkulturellen kommunikativen Kompetenzen und hier insbesondere interkulturelle Einstellungen und Bewusstheit und interkulturelles Verstehen und Handeln besonders gute Anknüpfungspunkte. Dieser Bereich sollte gestärkt werden.
  • Bei den fachlichen Inhaltsvorgaben gibt es kaum Unterschiede zwischen dem Grund- und dem Leistungskurs, was zu einer Überfrachtung des Grundkurses führt. Schon im Leistungskurs ist ob der Fülle der inhaltlichen Vorgaben und der einzuübenden Kompetenzen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Themen nur bedingt möglich. Im Grundkurs ist sie schlichtweg unmöglich. Dies steht im deutlichen Widerspruch zum Auftrag des Gymnasiums, das gemäß § 16 Abs. 1 SchulG „seinen Schülerinnen und Schülern eine vertiefte allgemeine Bildung [vermittelt]“. Hier muss es zu einer Reduktion bzw. zu einer deutlichen Priorisierung der inhaltlichen Vorgaben und/oder der Kompetenzen kommen, um eine vertiefte Auseinandersetzung mit Themen wieder möglich zu machen. Denkbar und sinnvoll wäre in diesem Zusammenhang auch eine Reduktion der Zieltextformate, die im Abitur erwartet werden, z. B. film script, denn diese müssen im Unterricht eingeführt, besprochen und geübt werden.
  • Die Dichte von Kompetenzerwartungen und fachlichen Vorgaben führt zusätzlich dazu, dass im Leistungskurs kaum noch Freiräume für die Gestaltung nach den Interessen der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen. Im Grundkurs existieren Freiräume, wenn man von der Wahlfreiheit der literarischen Texte absieht, gar nicht mehr.
  • Massive Kritik wird an der Diskrepanz zwischen den Erwartungen an/in Klausuren und den zeitlichen Vorgaben geübt:
    Obschon die veränderten Klausurformate durchaus positiv zu bewerten sind, stellen sie in der Praxis aufgrund der vorgesehenen Klausurlängen eine Herausforderung dar. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Texten im Klausurteil A steht insbesondere in der Einführungsphase und der Q1 viel zu wenig Zeit zur Verfügung, was bei den Schülerinnen und Schülern den Druck unnötig erhöht. Darunter leidet die Qualität der Ergebnisse massiv (z. B. Performanzfehler), denn für ein sorgfältiges Korrekturlesen, zu dem die Schülerinnen und Schüler befähigt und hingeführt werden sollen, fehlt die Zeit. Dies ist besonders eklatant bei der Überprüfung des Hör- bzw. Hör-/Sehverstehens, da die Schülerinnen und Schüler bei diesen Formaten ihre Zeit nicht selbst einteilen können.
  • Auch in Hinblick auf die unterrichtliche Vorbereitung auf die Klausurformate ergeben sich zeitliche Probleme, da die Schülerinnen und Schüler nunmehr nicht mehr auf drei (wie es jahrelang der Fall war), sondern in der Regel auf vier Aufgabenformate vorbereitet werden müssen. Dieses ist vor allem ein Problem in der Einführungsphase und in den Grundkursen der Qualifikationsphase, wo die Kurse nur dreistündig unterrichtet werden. Aber auch im Leistungskurs bindet dies viele Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen. Dadurch kommt es zu der Situation, dass der Englischunterricht vielfach einem teaching to the test ähnelt.
  • Grundsätzlich ist die Überprüfung anderer Kompetenzen neben dem Schreiben sinnvoll und zeitgemäß. Die Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer sollten jedoch entlastet werden, indem Klausurformate flexibler gehandhabt werden, dürfen, insbesondere in den Jahrgangsstufen EF und Q1. Denkbar wäre z. B. eine Kürzung des Klausurteil A, indem nur zwei Aufgaben in Klausurteil A mit Klausurteil B kombiniert werden, so dass die Gesamtzahl der Aufgaben bei drei läge. Eine Vorgabe könnte lauten, dass im Verlaufe eines Halbjahres jeder der drei Aufgabentypen in Klausurteil A in einer Klausur auftauchen muss, nicht aber zwangsläufig in jeder Klausur. Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass insbesondere im Leistungskurs der Anforderungsbereich III nicht zu kurz kommt und spätestens ab der Q2 fester Bestandteil der Klausuren ist. Im Abitur selbst ist die Zeit für die Bearbeitung der Aufgaben ausreichend – hier kann das aktuell gewählte Format von drei Aufgaben in Teil A plus Klausurteil B zur Anwendung kommen.
  • Auf Grund der neuen Klausurformate hat sich der Arbeitsaufwand für Lehrkräfte bei der Erstellung von Klausuren massiv erhöht. Für die Sprachmittlung muss nicht nur ein weiterer Text gesucht, gekürzt und mit einer adäquaten Aufgabenstellung versehen werden, sondern für den Klausurteil B ist auch ein eigenständiger Erwartungshorizont zu erstellen. Besonders aufwendig ist das Erstellen des Klausurformats Schreiben und Hör- bzw. Hör/Sehverstehen. Schon die Suche nach einem geeigneten englischsprachigen Hörtext, ggf. dessen Kürzung und vor allem die Entwicklung des Aufgabenapparates ist ungleich zeitintensiver und herausfordernder als das Erstellen einer klassischen Klausur. Die Verlage bieten für diesen Klausurtyp nach wie vor sehr wenig Material und haben nach den anfänglichen Angeboten wenig nachgeliefert, was die Kolleginnen und Kollegen vermehrt dazu zwingt, eigene Vorschläge zu erstellen. Die vom MSB veröffentlichten Vorgaben und Hinweise zur Konzeption von Klausuren in den modernen Fremdsprachen in der gymnasialen Oberstufe mit Blick auf die Aufgabenformate im Zentralabitur lassen erahnen, wieviel Aufwand zur Erstellung das Aufgabenapparates notwendig ist. Es werden allein elf (!) Hinweise zur Konstruktion der Items (vgl. S. 14) aufgeführt.

(C) hinsichtlich der Verständlichkeit von Struktur und Zielsetzung der Kernlehrpläne?

  • Der Kernlehrplan ist sehr umfangreich, wobei weite Teile sich wiederholen, da sich die Kompetenzerwartungen für die Einführungsphase, Grund- und Leistungskurs nur in einzelnen Formulierungen unterscheiden. Hier wäre es für die Übersichtlichkeit und die Verdeutlichung der Progression hilfreich, wenn man die Unterschiede in einem einzigen Text aufzeigte, z. B. durch Formatierungsunterschiede.
  • Die Wiederaufnahme der Korrekturzeichen in den Kernlehrplan wird empfohlen, damit die Instrumente einer fachlichen Arbeit an der zentralen Stelle zu finden sind, in deren Kontext sie gehören.

Düsseldorf, den 03. März 2022

gez. Sabine Mistler
Vorsitzende des PhV NRW