Stellungnahme zu den Kernlehrplänen Biologie, Chemie, Physik am Weiterbildungskolleg

Kategorien: Aktuelles, StellungnahmeVeröffentlicht: 24.06.2022

STELLUNGNAHME

des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen
(PhV NRW)

zu den Kernlehrplänen Biologie, Chemie, Physik


am Weiterbildungskolleg

(Durchführung der Verbändebeteiligung
gem. § 77 Abs. 3 SchulG)

I. Allgemeiner Teil

Der PhV NRW nimmt im Rahmen der Verbändebeteiligung zu den Entwürfen der Kernlehrplänen (KLP) für die Abendgymnasien und Kollegs in NRW in den Fächern Biologie, Chemie und Physik Stellung. In einem ersten allgemeinen Teil machen wir zunächst grundsätzliche Anmerkungen zu übergeordneten Aspekten:

  1. Die Entwürfe entsprechen in Hinblick auf Kompetenzbereiche, Inhaltsfelder, Kompetenzerwartungen und Basiskonzepte den KLP der gymnasialen Oberstufe in ihrer Endfassung. Dies ist aufgrund der gleichen Ziele der Bildungsgänge mit den gleichen Anforderungen im Abitur nachvollziehbar. Unter „Aufgaben und Ziele des Faches“ werden Spezifika des Bildungsganges an den Abendgymnasien und Kollegs genannt (S. 9). Dies bleibt allerdings ohne Konsequenz in den KLP.
  2. Positiv sehen wir die Betonung der Fachlichkeit und des wissenschaftsorientierten Lernens, sowie der weitgehend gelungenen Verschränkung von Inhalten und Kompetenzen. Die Integration der Basiskonzepte, die nun prüfungsrelevant sind, in die Struktur von Zielen des Faches/übergreifender fachlicher Kompetenz, Kompetenzbereichen, Inhaltsfeldern und Kompetenzerwartungen erscheint uns sinnvoll. Insofern sehen wir viele positive Aspekte in den Kernlehrplanentwürfen. Dennoch lenken wir in unseren Stellungnahmen den Blick auf die notwendigen Änderungen, die trotz des knappen Zeitfensters bis zum Inkrafttreten am 01. August 2022, nicht ignoriert werden dürfen.
  3. Die Grundentscheidung der Kultusministerkonferenz, dass ab dem Abitur 2025 für die Fächer Biologie, Chemie und Physik 50% der Abituraufgaben aus dem Aufgabenpool des IQB entnommen werden müssen, hat zur Folge, dass bereits im unmittelbaren Anschluss an die unterrichtsfreie Zeit ab dem nächsten Schuljahr bereits nach den neuen Kernlehrplänen der Oberstufe unterrichtet werden soll, die den Schulen bisher nicht final vorliegen. Es bleibt in dem knappen Zeitraum bis zum Start des neuen Schuljahres effektiv keinerlei (!) Zeit für notwendige Vorarbeiten und Vorbereitungen. So müssen noch Implementationen der neuen Lehrpläne durchgeführt und Materialien, wie z.B. die Beispiele für die schulinternen Lehrpläne, rechtzeitig bereitgestellt werden.
  4. Die Kultusministerkonferenzhat mit Beschluss vom 18.06.2020 Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife in den Fächern Biologie, Chemie und Physik verabschiedet. Sie hat ferner vorgesehen, für die Umsetzung der Bildungsstandards in die Lehr- und Bildungspläne der Länder Eckpunkte für curriculare Vorgaben zu entwickeln. Dieses Eckpunktepapier liegt vor. Ziele sind Qualitätssicherung, Überprüfbarkeit und Vergleichbarkeit. Das unterstützen wir ausdrücklich. Allerdings dürfen diese verbindlichen Vorgaben der Bildungsstandards nicht zu einer inhaltlichen Überfrachtung der Kernlehrpläne führen. Der vorgegebene Freiraum von 25% muss erhalten bleiben, damit weiterhin im Sinne des Bildungsauftrags einer vertieften allgemeinen Bildung gearbeitet werden kann. Im Fach Biologie ist dieser Freiraum durch die Fülle an Inhalten und Kompetenzerwartungen durchgängig nicht mehr gegeben. Im Fach Chemie entsteht dieses Problem im Leistungskursbereich. Besonders im Fach Biologie ist eine übergeordnete Lösung notwendig, welche auch den unterschiedlichen Voraussetzungen der Bundesländer Rechnung trägt. Um die Bildungsstandards einhalten zu können, müssen in den verschiedenen Bundesländern auch vergleichbare Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf die Stundentafel, gegeben sein. Es kommt hinzu, dass für NRW noch nicht klar ist, wie die APO-WBK geändert werden wird und unter welchen Rahmenbedingungen die vorgelegten Entwürfe und die noch folgenden KLP gelten sollen.
  5. Der PhV NRW empfiehlt, die aktuellen Regelungen zur Aufgabenauswahl im Abitur in den Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik beizubehalten: „Die Schulen erhalten für den Grundkurs und für den Leistungskurs jeweils 3 Aufgaben, aus denen die Fachlehrerin bzw. der Fachlehrer zwei Aufgaben auswählt. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten die beiden ihnen dann vorgelegten Aufgaben.“ (Vorgaben Zentralabitur 2022, S. 2). Es sollte also auch zukünftig keine verbindlich festgelegte Aufgabe geben. Wir begründen unsere Empfehlung folgendermaßen: Die Schülerinnen und Schüler haben aufgrund der komplexen Abituraufgaben in den Naturwissenschaften wie bisher auch keine Aufgabenauswahl. Die ursprünglich vorgesehene eingeschränkte Aufgabenauswahl durch die Lehrkraft wäre im Vergleich zu anderen Fächern ungerecht. In der aktuellen Regelung wird den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern ein gewisser Spielraum eröffnet, um Ausfälle und auch die höhere Stofffülle kompensieren zu können. Die Aufgaben sollten sich dann auch trennschärfer auf bestimmte Themengebiete beziehen und weniger inhaltsfeldübergreifend gestaltet sein.
  6. Im Hinblick auf die in den Kernlehrplanentwürfen unter “Aufgaben und Ziele des Faches” getätigten Aussagen seien noch einmal die herausfordernde Heterogenität und die äußerst unterschiedlichen Lernausgangslagen der Studierenden an den Abendgymnasien und Weiterbildungskollegs ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dieser spezifischen Herausforderung des Zweiten Bildungsweges wird vor allem in Hinblick auf die Stofffülle im Fach Biologie nicht angemessen Rechnung getragen. Wir verweisen u.a. auf die Stundentafel mit einer geringeren Stundenzahl in der EF. Viele Studierende müssen in ihrer knapp bemessenen Freizeit beruflichen und familiären Pflichten nachkommen. Außerdem ist die reale Präsenzzeit in den Schulen deutlich reduzierter als im ersten Bildungsweg, was die im Lehrplanentwurf ins Zentrum gerückten Potenziale individueller Förderung erheblich beeinträchtigt.

II. Fachbezogener Teil: Biologie, Chemie und Physik

Der PhV NRW verweist mit Blick auf die geringfügigen, vorrangig redaktionellen Änderungen in den Entwürfen der Kernlehrpläne für die gymnasiale Oberstufe erneut auf seine am 09.02.2022 im Rahmen der Verbändebeteiligung eingereichten Stellungnahmen mit Bitte um Berücksichtigung. Die Stellungnahmen des PhV finden sich unter folgendem Link:

phv-nrw.de/aktuelles/stellungnahmen/

Zusätzlich erreichten uns aktuell folgende Rückmeldungen aus den Abendgymnasien und Kollegs. Diese machen deutlich, dass die schon in den Stellungnahmen zu den Kernlehrplanentwürfen für die gymnasiale Oberstufe genannten Probleme verschärft für die Abendgymnasien und Kollegs gelten.

Stellungnahme zum Entwurf des Kernlehrplans Biologie

Die Veränderungen werfen in ihrer aktuellen Ausführung große Probleme auf. Wir haben festgestellt, dass die Ausführungen v.a. in der Einführungsphase eine zu große Stofffülle aufweisen. Die Studierenden des Weiterbildungskollegs haben.- nach einer Berufsausbildung und einer z.T. mehrjährigen Berufstätigkeit – meist kein aktives Fundament, auf das man den Unterricht in der Einführungsphase aufbauen könnte. Daher ist der Zeitbedarf für die Reaktivierung des Vorwissens höher. Auch die Analysen unterschiedlicher Blattstrukturen oder die Behandlung von Tumoren mit Zytostatika und die Analyse von Familienstammbäumen brauchen sehr viel mehr Vorlauf und fachliches Verständnis. Dies ist speziell bei dem heterogenen Vorwissen der Studierenden des Weiterbildungskollegs in dem vorgesehenen Umfang nicht realisierbar und steht damit im Widerspruch zur Teilhabe und Gleichberechtigung im Bereich Bildung und Weiterbildung.

Das Inhaltsfeld Stoffwechselphysiologie in der Qualifikationsphase halten wir insgesamt für überrepräsentiert. Hier werden mit Abstand die meisten Unterthemen aufgeführt, die meisten davon setzen grundlegende Kenntnisse in Physik und Chemie voraus. Dies führt, unter den speziellen Bedingungen des Abendunterrichts aufgrund des fehlenden Angebots zu fehlendem Grundlagenwissen, was dann erst zeitintensiv im Unterricht erarbeitet werden muss. Dies hat erfahrungsgemäß einen negativen Einfluss auf die zur Verfügung stehende Zeit und auch auf die Motivation.

Daher ist der Entwurf zum Kernlehrplan 2022 an die Realitäten des Zweiten Bildungsweges anzupassen und zwingend gründlich, wie schon 2015 geschehen, zu überarbeiten.

Erste Stellungnahme zum Entwurf des Kernlehrplans Chemie

Im Kernlehrplan Chemie für Abendgymnasium und Kolleg hat es in seiner Fassung von 2022 eine starke Anpassung an den KLP Gymnasium/Gesamtschule gegeben. Dies ist eine Veränderung, die von der Zielrichtung zu begrüßen ist, aber in ihrer aktuellen Ausführung große Probleme aufwirft.

Wir beobachten, dass in den allermeisten Hauptschulen und in vielen anderen Schulen des ersten Bildungswegs das Fach Chemie nicht in dem Umfang unterrichtet wird, wie es in der Stundentafel vorgesehen ist. Die Kompetenzen, die der entsprechende Lehrplan für den Bildungsabschluss vorsieht, werden somit oft nur geringfügig erreicht.

Wenn diese Studierenden – auch nach einer Berufsausbildung und auch nach einer mehrjährigen Berufstätigkeit – nun in der Einführungsphase zu uns kommen, gibt es meistens kein Fundament, auf das man den Unterricht der Einführungsphase aufbauen könnte, daher sind Inhaltsfelder zum Angleich, wie im Kernlehrplan 2015 nötig.

Unter diesen Umständen haben wir festgestellt, dass der Kernlehrplan WBK in seiner jetzigen Ausführung vor allem für die Grundkurse eine zu große Stofffülle aufweist. Vom einst propagierten Ziel, dass die Inhalte 75 Prozent der Unterrichtszeit beanspruchen sollen, sind wir sehr weit entfernt. Die Kolleginnen und Kollegen benötigen alle zur Verfügung gestellten Stunden für die Bearbeitung des verpflichtenden Teils und schaffen dies, z.B. bei einer unglücklichen Verteilung der Stunden im Stundenplan, in manchen Jahren fast nicht, insbesondere wenn Chemie als zweistündiger Kurs in der Einführungs- und Qualifikationsphase angeboten wird (APO-WBK §35 (2)).

Dies lässt sich bei der jetzigen Stofffülle und den o.g. Besonderheiten des Zweiten Bildungswegs, die letztendlich aber für die Durchgängigkeit der Bildungssysteme sorgen, kaum umsetzen. Daher ist der Entwurf zum Kernlehrplan 2022 an den Realitäten des Zweiten Bildungsweges anzupassen und unbedingt gründlich, wie schon 2015 geschehen, zu überarbeiten.

Entsprechend des Kernlehrplans 2015 sind auch in der Einführungsphase kompetenzorientiert basale inhaltliche Grundlagen, die am Gymnasium in der Sekundarstufe I vermittelt werden, aufzugreifen.

Insbesondere folgende Inhalte sind aus Sicht der Kolleginnen und Kollegen zu berücksichtigen und müssen zwingend in die Einführungsphase einfließen:

  • Atombau
  • Chemische Bindungen: Ionenbindung, Elektronenpaarbindung und Metallbindung
  • Arbeiten mit dem Periodensystem
  • Chemische Reaktionen
  • Unterschiede zwischen organischer und anorganischer Chemie
  • Redoxreaktionen als Elektronenübertragungsreaktionen
  • Chemische Formelsprache
  • Grundvorstellungen zur Wasserstoffbrückenbindung als intermolekulare Kraft

Zweite Stellungnahme zum Entwurf des Kernlehrplans Chemie

In den meisten Fällen können Unterrichtsinhalte der Sek I bei Studierenden der Weiterbildungskollegs und Abendgymnasien (in der Folge abkürzend “WBK”) nicht vorausgesetzt werden. Daneben müssen grundlegende Fertigkeiten – angefangen mit der Lesekompetenz bezogen auf fachliche Texte – zunächst eingeübt werden. Die Darstellung „Chemieunterricht im Abendgymnasium und im Kolleg knüpft auch an den Unterricht in der Sekundarstufe I an… “ (KLP-Entwurf für WBK, Seite 10) entspricht damit nicht der Realität im zweiten Bildungsweg.

Aufgrund der sehr heterogenen und lange unterbrochenen schulischen Vorerfahrungen der

Studierenden der EF am WBK weisen die meisten Studierenden keine Vorkenntnisse und Kompetenzen bzgl. des Faches Chemie auf. Schon der aktuelle Kernlehrplan für die EF kann in der zur Verfügung stehenden Zeit von 2 Semesterwochenstunden in maximal 2 Semestern kaum umgesetzt werden. Die Kompetenzerwartungen des aktuellen KLP für WBK ermöglichen uns jedoch immerhin, unter den gegebenen Bedingungen grundlegende Kompetenzen für die Kursphase zu entwickeln. Entsprechend entwickeln wir kompetenzorientiert und kontextbezogen basale inhaltliche Grundlagen, die am Gymnasium in der Sekundarstufe I vermittelt werden:

  • Atombau
  • Chemische Bindungen: Ionenbindung, Elektronenpaarbindung und Metallbindung
  • Arbeiten mit dem Periodensystem
  • Chemische Reaktionen
  • Unterschiede zwischen organischer und anorganischer Chemie
  • Redoxreaktionen als Elektronenübertragungsreaktionen
  • Chemische Formelsprache
  • Grundvorstellungen zur Wasserstoffbrückenbindung als intermolekulare Kraft

Die Inhaltsfelder der EF im neuen KLP-Entwurf (Reaktionsgeschwindigkeit und chemisches Gleichgewicht, Organische Stoffklassen) gehen damit vollständig an den Erfordernissen und den realistischen Möglichkeiten des Unterrichts in der EF am WBK vorbei. Es handelt sich dabei um Inhalte, die auf Grundlagen aus der Sek I basieren und nicht ohne Vorkenntnisse in den wenigen zur Verfügung stehenden Stunden umgesetzt werden – zumal in der EF am WBK die Heterogenität der Lernenden deutlich stärker ausgeprägt ist als im ersten Bildungsweg. Auf diese Tatsache wird im KLP-Entwurf hingewiesen:

“Die Eingangsvoraussetzungen der Studierenden werden durch ihre heterogenen und teilweise diskontinuierlichen Berufs- und Lernbiografien geprägt” (KLP-Entwurf für WBK, Seite 10). Es

wird jedoch nicht berücksichtigt, dass diese Eingangsvoraussetzungen andere Ansprüche an den Unterricht in der EF hervorrufen als in der gymnasialen Oberstufe. Dazu gehört, dass grundlegende und auch überfachliche Kompetenzen vermittelt werden müssen. Schon der Erwerb einfacher

fachsprachlicher Grundlagen und Fachkonzepte ist – besonders für Studierende mit Migrationsvorgeschichte – eine große Herausforderung.

Es ist eine deutliche Diskrepanz erkennbar zwischen der Forderung nach individueller Förderung sowie Berücksichtigung unterschiedlicher Eingangsvoraussetzungen und der großen inhaltlichen Dichte und Komplexität der inhaltlichen Schwerpunkte. Im KLP-Entwurf steht dazu: “Dabei ist es notwendig, die im Unterricht der Sekundarstufe I erworbenen Kompetenzen zu konsolidieren und zu vertiefen, um eine gemeinsame Ausgangsbasis für weitere Lernprozesse zu schaffen. Insbesondere in dieser Phase ist eine individuelle Förderung von Studierenden mit heterogenen Bildungsbiografien von besonderer Bedeutung” (KLP-Entwurf für WBK, Seite 11). Zusammenfassend ist der KLP-Entwurf für WBK im Bereich der Einführungsphase, was die Inhaltsfelder und inhaltlichen Schwerpunkte betrifft, aus folgenden Gründen nicht ansatzweise realisierbar:

  • Voraussetzbarkeit von fachlichen und methodischen Kompetenzen aus der Sek I ist nicht gegeben.
  • Die Stundenvolumina in der EF beträgt maximal 2 Semesterwochenstunden in 2 Semestern. Das sind unter realen Bedingungen etwa 52 Stunden á 45 min insgesamt und damit viel zu wenig Zeit, um fachliche Grundlagen zu legen und die angegebenen Inhaltsfelder umzusetzen.
  • Die Lebenssituation der Studierenden ist geprägt durch diskontinuierliche Biografien, schwierigen Lebenssituationen, z. T. Betreuung eigener Kinder und teilweise Migrationsvorgeschichte.
  • Die Studierenden müssen auch an fachspezifische Arbeitsweisen, wie das Experimentieren, zunächst herangeführt werden.

Düsseldorf, den 24. Juni 2022

gez. Sabine Mistler
– Vorsitzende –