Stellungnahme zum Kernlehrplan Deutsch
STELLUNGNAHME
des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen
(PhV NRW)
zum Kernlehrplan Deutsch
in der gymnasialen Oberstufe an Gymnasien, Gesamtschule
und Weiterbildungskolleg/Abendgymnasium
– Durchführung der Verbändebeteiligung gem. § 77 Abs. 3 SchulG –
I. Allgemeiner Teil
Der PhV NRW nimmt zu den Kernlehrplan-Entwürfen für die Oberstufe in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch jeweils ausführlich Stellung.
Wir weisen darauf hin, dass für die Bündelungsschulen mit der Einrichtung der EF im kommenden Schuljahr die Implementierung der neuen KLP eine große Herausforderung darstellt und möglichst schnell Unterstützungsmaterialien bereitgestellt werden müssen.
Nach einer größeren Umstrukturierung der KLP für die Oberstufe durch die letzte Novellierung im Jahr 2013 stellt sich in den einzelnen Fächern grundsätzlich die Frage nach der Notwendigkeit von Veränderungen. Diese liegt sicherlich zum einen in der Anschlussfähigkeit zur Sek. I durch die neuen KLP im Jahr 2019. Zum anderen bleiben Diskussionspunkte, die bereits im Rahmen der KLP von 2013 geäußert wurden und sich auf grundlegende Fragen wie der sinnvollen Einbindung des MKR NRW, der stärkeren Konkretisierung von Inhalten und dem Vermeiden einer inhaltlichen Überfrachtung beziehen.
Bei der Novellierung der KLP aller Fächer müssen die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang von KI (DeepL, ChatGPT etc.) hinsichtlich ihrer Konsequenzen für Unterricht und Leistungsbewertung geprüft werden. Gegebenenfalls sind eine Erweiterung des MKR NRW sowie Änderungen bestimmter Aufgaben- und Prüfungsformate notwendig. Die KLP sollten dazu konkrete Beispiele und Hilfen geben. Chancengleichheit und Eigenständigkeit der individuellen Leistung sind weiterhin wichtige Kriterien bei der Bearbeitung von Lern- und Prüfungsaufgaben. Insofern brauchen wir klare Handlungsempfehlungen, wann die Nutzung bestimmter digitaler Medien und Werkzeuge sinnvoll ist und wann sie eingeschränkt werden sollte. Bestimmte Aufgaben- und Prüfungsformate, wie Teile der häuslichen Arbeit, die besondere Lernleistung und die Facharbeit müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Das wissenschaftspropädeutische Lernen bekommt einen neuen Stellenwert, da den Schülerinnen und Schülern bewusst gemacht werden muss, dass bestimmte Formen der KI keine Quellen angeben und auch Falschaussagen enthalten, die sich nur schwer überprüfen lassen.
II. Fachspezifischer Teil für den Kernlehrplan Deutsch
Der KLP-Entwurf ist in Teilen durchaus nachvollziehbar gestaltet und formuliert. Trotzdem gibt es einige wirklich kritische Aspekte des KLP-Entwurfs, die im Folgenden erläutert werden und hoffentlich Berücksichtigung finden. Basis des Kommentars sind auch zahlreiche Hinweise von Deutsch-Kolleginnen und -Kollegen, so dass zahlreiche Stimmen aus der Praxis hier gebündelt werden.
Beginnen wir zunächst mit dem Begrüßenswerten des neuen Kernlehrplans: endlich wird wieder explizit hervorgehoben, dass „der Unterricht im Fach Deutsch die Entwicklung einer mündigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit“ unterstützt und dass das Fach zahlreiche „Beiträge zu fachübergreifenden Querschnittsaufgaben in Schule und Unterricht“ leistet. Damit wird die Kompetenzorientierung des Lehrplans zumindest auf formaler Ebene wieder in den Kontext eines grundlegenden Bildungskonzepts eingebettet.
Auch in den diversen Formulierungen der übergeordneten Kompetenzerwartungen lässt sich eine positive Entwicklung konstatieren: In den allermeisten Fällen sind die übergeordneten Kompetenzerwartungen fachlich deutlich ausgeschärfter. Dieses höhere Maß an Konkretisierung, das sich in den an den Inhaltsfeldern entlang formulierten konkretisierten Kompetenzerwartungen fortschreibt, räumt der Fachlichkeit des Deutschunterrichts in der Sekundarstufe II wieder einen höheren Stellenwert ein als es zuvor der Fall war.
Angesichts dieser begrüßenswerten Ausschärfungen sind die kritikwürdigen Aspekte umso überraschender und problematischer.
Da ist zunächst die weiterhin krasse Vernachlässigung längerer epischer Texte im Kernlehrplan, indem man in der EF auf eine obligatorische Auseinandersetzung mit dem Roman als dem zentralen Genre auf dem Buchmarkt und in der literarischen Öffentlichkeit verzichtet und nur „kurze Erzähltexte“ verbindlich macht. In den weiteren Jahrgangsstufen wird dieses Problem weiter verschärft, indem wie bisher nur „strukturell unterschiedliche Erzähltexte aus unterschiedlichen historischen Kontexten“ eingefordert werden. M.a.W. man kann in NRW die Oberstufe ohne die Rezeption eines Romans oder einer Novelle durchlaufen! Die an dem Genre angebundenen und sehr konkreten Potenziale für das, was (fach-)didaktisch als Teilhabe am kulturellen Leben bezeichnet wird, wird hier ja fast schon fahrlässig ignoriert. Literarischer Bildung und ästhetischer Erziehung droht ihre Marginalisierung. Die an seinem Beginn genannten Ziele werden durch den Lehrplan selbst in dessen weiteren Verlauf so nur bedingt verfolgt.
Auch fällt auf, dass der Deutschunterricht zunehmend seinen Schwerpunkt verlagern soll: fort von einer literarisch-ästhetisch orientierten Auseinandersetzung mit Texten hin zu einer pragmatisch ausgerichteten Hilfestellung zur Lebens- und Berufsbewältigung mit phasenweisem Textbezug. Beispielhaft ist hierfür die Überbetonung von Sachtexten („pragmatische Texte“) und der noch größere Umfang des Inhaltsfeldes „Medien“. Die Frage, welche Inhalte dem ausgeweiteten Feld „Medien“ weichen sollen, bleibt unbeantwortet. Oder soll hier gar indirekt die Wahl „kurzer epischer Texte“ forciert werden, weil sonst die „Medien“ zu kurz kommen?
Ein anderes schwieriges Feld des neuen Kernlehrplans stellen die Ausführungen zum Kapitel „Lernerfolgsüberprüfung und Leistungsbewertung“ dar. Dieses Kapitel entfaltet seine Problematik im Detail, zum Beispiel heißt es hier lapidar: „Für den Einsatz in Klausuren kommen Aufgabenarten in Betracht, wie sie in Kapitel 4 [d.i.: Abiturprüfungen] aufgeführt sind.“ Warum verzichtet man hier (wieder einmal) auf eine klare und für die Kolleginnen und Kollegen unmissverständliche Formulierung? Ein simples Adverb wie „ausschließlich“ oder „nur“ würde Klarheit bringen. Oder kommen auch andere Aufgabenarten „in Betracht“? Das wäre eine ganz neue Praxis. Es gibt (ebenfalls wieder einmal) keine Hinweise darauf, wie denn Klausurformate in der EF oder der Q1 aussehen könnten, die die Schülerinnen und Schüler natürlich auf die Abituranforderungen vorbereiten, die aber zugleich ihren Lernstand mit in den Blick nehmen.
Hilfreich und der Klarheit dienlich wäre es anzugeben, welche der Formate in den 4 Klausuren, die die Schülerinnen und Schüler in der EF schreiben, in dieser Jahrgangsstufe in Erscheinung treten müssen und welche in der Qualifikationsphase. Umgekehrt formuliert: Auf welche Aufgabenformate kann man im Rahmen einer Leistungsmessung verzichten und die Schülerinnen und Schüler dennoch rechtssicher und KLP-konform auf die Anforderungen im Abitur vorbereiten? Hier bedarf es deutlicherer Ausschärfungen im Text als sie hier vorliegen.
Düsseldorf, den 17. März 2023
gez. Sabine Mistler
– Vorsitzende –