Stellungnahme zu den neuen Richtlinien Bildungs- und Erziehungsgrundsätze

Kategorien: StellungnahmeVeröffentlicht: 12.10.2023

STELLUNGNAHME

des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen

(PhV NRW)

Richtlinien – Bildungs- und Erziehungsgrundsätze
für die allgemeinbildenden Schulen
in Nordrhein-Westfalen

– Verbändebeteiligung gem. § 77 SchulG NRW –

Sehr geehrter Herr Dr. Mauer,

auch im Namen des dbb NRW bedanken wir uns für die Möglichkeit einer Stellungnahme zum oben genannten Verordnungsentwurf im Rahmen der Verbändebeteiligung –  Ihr Schreiben vom 18. August 2023.

Wir werden in unserer Stellungnahme zunächst in einem ersten Teil allgemeine Anmerkungen zur Konzeption der neuen Richtlinien machen und nachfolgend in einem zweiten Teil zu den einzelnen Kapiteln kritisch-konstruktive Hinweise geben.

I. Allgemeiner Teil:

Der PhV NRW entnimmt dem Entwurf, dass die bisher gültigen allgemeinen, nach Schulformen und Schulstufen differenzierten Richtlinien, in diesem einen Entwurf zusammengefasst werden. Der Einleitungssatz zu 1.1 Aufgaben und Ziele:

„Richtlinien bilden neben den Rahmenvorgaben sowie Lehr- und Kernlehrplänen die landeseigenen inhaltlichen Grundlagen zur Steuerung, Sicherung, Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit schulischer Bildung in Nordrhein-Westfalen.“

legt aus unserer Sicht den Schwerpunkt auf eine Vereinheitlichung, die den einzelnen Schulstufen und Schulformen nicht gerecht wird. Diese Zusammenführung führt zu weniger Transparenz über die unterschiedlichen Profile der unterschiedlichen Schulstufen und Schulformen, da in vielen additiven Aufzählungen im allgemeinen Teil nicht immer deutlich wird, worauf man sich genau bezieht. Innerhalb der einzelnen Kapitel fehlt oft ein klar erkennbarer roter Faden, da die einzelnen Abschnitte argumentativ nicht stringent miteinander verbunden sind.

Vor allem in Kapitel 2 wird deutlich, dass die Ziele der neuen Richtlinien weniger von den Schülerinnen und Schülern aus gedacht (nicht pädagogisch begründet), als vielmehr von einer politisch einseitigen gesellschaftlichen Analyse her bestimmt werden. Bildung wird vergesellschaftet und die Lehrkraft zum Gehilfen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme gemacht. Ausgangspunkt sollte vielmehr eine umfassende Definition von Bildung sein, wie sie in den bisherigen Richtlinien gegeben wird (vgl. z.B. RL Gymnasium Sek. II Kap. 1.2 Auftrag und 1.3.2 Persönliche Entfaltung und soziale Verantwortlichkeit).

Insgesamt fällt eine unverhältnismäßige Schwerpunktsetzung auf durch die Betonung von Querschnittsthemen, Ganztag und Berufsorientierung, die insbesondere für die Schulform Gymnasium weder angemessen differenziert noch dem Bildungsgang angemessen dargestellt werden. Wir werden im Folgenden anhand der einzelnen Kapitel näher darauf eingehen.

Die allgemeinen Querschnittsaufgaben werden immer weiter ausgeweitet und haben zur Folge, dass noch mehr Konzepte erstellt und an die Fächer angebunden werden müssen, was einerseits eine Vernachlässigung der Fachlichkeit bedeuten muss und andererseits kaum von der Schule allein bewältigt werden kann (und sollte).

Im Folgenden werden wir entlang der Struktur der Richtlinien auf einzelne Aspekte eingehen, die aus Sicht des PhV NRW kritikwürdig oder ergänzungsbedürftig sind.

II. Konkrete Hinweise:

Zu 1.1 Aufgaben und Ziele

Im ersten Absatz sollte der Begriff „Vereinheitlichung“ gestrichen werden, da er den Grundprinzipien eines gegliederten Schulsystems widerspricht und damit auch im Widerspruch zum Koalitionsvertrag steht.

Die gleichberechtigte Nennung der Querschnittsaufgaben neben den Bildungs- und Erziehungszielen im zweiten Absatz zeigt bereits hier die Überbetonung von gesellschaftlichen Themen im Verhältnis zu fachlichen und pädagogischen.

Im dritten Absatz wird in Bezug auf die Umsetzung der Bildungs- und Erziehungsziele darauf hingewiesen, dass die „durchgängigen Bildungsbiografien“ der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen seien. Hier wäre eine Erklärung hilfreich, was genau damit gemeint ist.

Im letzten Abschnitt wird nochmals darauf hingewiesen, dass die folgenden Aussagen zu Lehr- und Lernprozessen und zu Schule als Ort des gemeinsamen Lernens für alle Schülerinnen und Schüler sowie alle Schulformen und Schulstufen gelten sollen. Wir halten allerdings eine Differenzierung auch der grundsätzlichen Aussagen in diesen Bereichen für notwendig, insbesondere für den Bereich der Inklusion.

Zu 1.2 Adressatenkreis von Richtlinien

Die nicht ausreichende Differenzierung der Schulstufen und Schulformen hat zur Folge, dass die Richtlinien als Referenz für die Schul- und Unterrichtsentwicklung ihre Steuerungsfunktion nicht angemessen entfalten können.

Der im vierten Absatz formulierte Anspruch einer vollständigen Berücksichtigung der Ziele der Querschnittsaufgaben sowie daraus abgeleiteter Aufträge der Richtlinien durch die verpflichtende Erstellung entsprechender Konzepte ist kaum erfüllbar.

Zu 2.2 Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft

Wir begrüßen, dass in den Richtlinien der Aspekt der kulturellen Vielfalt Einzug genommen hat. Die Ausführungen im zweiten Absatz unter dem Begriff der „Einwanderungsgesellschaft“ setzen den Fokus einseitig auf negative Zuschreibungen und zu befürchtende Benachteiligungen. Der damit verbundene Anspruch insbesondere an die Lehrkräfte ist (schon grammatisch) unklar formuliert: „Dafür bedarf es der Lehrkräfte und weiteren pädagogisch Tätigen sowie der Schülerinnen und Schüler, die kulturelle und sprachliche Ressourcen zu erkennen, wertzuschätzen und zu nutzen.“ (S. 6).

Die sehr differenzierte Ausgestaltung der Aussagen zur gendersensiblen Bildung halten wir in dieser Form für wenig hilfreich und in Teilen überfordernd. Eine Überbetonung dieses sehr wichtigen Aspekts könnte möglicherweise die angestrebte Akzeptanz gefährden. Zentral und wichtig ist sicherlich der folgende Satz: „Schule zielt darauf, bei den Lernenden eine Werthaltung der Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von Geschlecht und sexueller Identität zu entwickeln beziehungsweise zu festigen.“

Zu 2.3 Schule als Lern-, Erfahrungs-, Lebens, Handlungs- und Begegnungsraum

Die umfassende Definition von Schule als Lern-, Erfahrungs-, Lebens-, Handlungs- und Begegnungsraum zeichnet ein Bild von Schule, die dem privaten Bereich nur noch wenig bei der Bildung und Erziehung von Jugendlichen zutraut. Der immer wieder erwähnte Ganztag unterstreicht diesen Eindruck. Bei der Konzeption von Schule müssen auch der Halbtag und offene Ganztag Berücksichtigung finden, der den Schülerinnen und Schülern Freiraum für private Aktivitäten (Sport, Musik, soziales Engagement, Kirche, freiwillige Arbeit etc.) lässt.

Zwei Fehler im vierten Absatz sollte man korrigieren: „Schule als Lern- und Lebensraum bereichern Veranstaltungen…“ und „Förderschulen…unterstützen…“ (S. 8).

Zu 2.4 Fachliche Bildung

Der PhV begrüßt ausdrücklich die Aussagen dieses Kapitels zur fachlichen Bildung mit seinen Hinweisen auf die Vielfalt der einzelnen Fächer in ihrer Breite und jeweiligen Spezifik mit der Anbindung an die entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen als Grundlage für eine breite allgemeine Bildung.

In Bezug auf den letzten Satz „In einem zeitgemäßen Unterricht verschränken sich digitale und analoge Zugänge.“ würden wir uns einen Hinweis auf die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte bei der medialen Gestaltung des Unterrichts wünschen. Die Vokabel „zeitgemäß“ beschreibt außerdem kein qualitatives Merkmal im pädagogischen Diskurs. Schulisches Handeln sollte sich am Kriterium der Effektivität für Lernerfolge messen lassen und nicht unter dem schwer definierbaren Aspekt einer vermeintlichen „Zeitgemäßheit“ bewertet werden. Ansonsten wird die jeweilige didaktische Mode zum Selbstzweck ohne empirische Legitimation.

Zu 2.5 Überfachliche Bildung

Der PhV unterstreicht die Bedeutung des Aufbaus bildungssprachlicher Kompetenzen insbesondere in der deutschen Sprache. Das Konzept des sprachsensiblen Fachunterrichts stellt eine neue Querschnittsaufgabe dar. Es darf einerseits nicht zu einer Absenkung des Niveaus am Gymnasium z.B. bei Aufgabenstellungen führen. Andererseits müssen die Ansprüche zeitlich und inhaltlich leistbar sein. Das betrifft auch den zweifachen Hinweis auf die notwendige Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, die an dieser Stelle erläuterungsbedürftig ist.

Zu 3.1 Kompetenzorientierter Unterricht

Wir geben ausdrücklich die Empfehlung zur Streichung des letzten Absatzes (S. 14 „Neben…“), da dieser keinen Aspekt des kompetenzorientierten Unterrichts darstellt.

Zu 3.2 Organisationsformen des Lehrens und Lernens

Aus folgenden Gründen drängen wir darauf, dieses Kapitel vollständig zu überarbeiten:

  • Es fehlen gänzlich die in den alten Richtlinien formulierten Prinzipien des Lehrens und Lernens (RL Gymnasium Sek. I Kap. 2.2) bzw. Gestaltungsprinzipien des Unterrichts (RL Gymnasium Sek. II Kap. 3.3), welche durch die Organisationsformen bzw. durch die Gestaltung des Unterrichts umgesetzt werden: z.B. Methodenvielfalt, Wechsel der Arbeits- und Sozialformen, Berücksichtigung der unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernwege, Üben, Wiederholen, Festigen, Vertiefen, sowie Schüler- und Problemorientierung, exemplarisches Lernen, kooperative Arbeitsformen, selbstständiges Arbeiten, komplexe Aufgabenstellungen, Anwendung und Transfer. Wir verweisen hier auch auf den Referenzrahmen Schulqualität NRW.
  • Dass unter der Überschrift „Organisationsformen des Lehrens und Lernens“ fast ausschließlich der Ganztag fokussiert wird, ist für den PhV NRW weder nachvollziehbar noch tragfähig (vgl. auch erster Punkt). Es wird ausdrücklich formuliert, dass der Ganztag „maßgeblich zur ganzheitlichen Bildung, zur Persönlichkeitsentwicklung, …“ (vgl. Absatz 2) beiträgt. Damit wird suggeriert, dass Schülerinnen und Schüler im Halbtag oder offenen Ganztag schlechtere Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten hätten. Für die Schulform Gymnasium sehen wir nicht die Notwendigkeit und nicht den Bedarf eines flächendeckenden Ganztagsausbaus. Eine Wahlfreiheit sollte unbedingt erhalten bleiben. Die individuelle Situation der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien darf nicht aus dem Blick geraten. Auch außerschulische, private Tätigkeiten können ebenso sinnvoll sein und zur ganzheitlichen Bildung und Entwicklung beitragen.

3.3 Leistung erfassen und bewerten

Die Formulierung im dritten Abschnitt suggeriert, dass auch Selbst-, Personal- und Sozialkompetenzen im Rahmen der Leistungserfassung bewertet werden. Diese Formulierung sollte korrigiert bzw. gestrichen werden.

Ähnlich wie in den Kernlehrplänen unter dem Kapitel Leistungsbewertung sollte auch in den Richtlinien explizit die „Notengebung“ Erwähnung finden. Aus Sicht des PhV NRW ist dies eine substanzielle Notwendigkeit, um einer perspektivischen Abschaffung der Ziffernnoten entgegenzuwirken.

3.4. Kooperationen

Im zweiten Absatz ist uns aus gymnasialer Sicht der Begriff der „professionellen Lerngemeinschaft“ unklar. Die Begrifflichkeit müsste entfallen, wenn sie aktuell nicht für alle Schulformen relevant ist.

Im siebten Absatz ist eine Korrektur erforderlich: Pädagogische Fachkräfte dürfen sich nicht am Unterricht beteiligen, da sie nicht die erforderliche Qualifikation besitzen.

Wir gehen davon aus, dass es sich in diesem Kapitel um eine additive, beispielhafte Aufzählung von möglichen Kooperationsformen handelt, die allerdings nicht in Gänze von jeder Lehrkraft verpflichtend zu leisten sind. Ein entsprechender Hinweis wäre an dieser Stelle hilfreich.

5.6 Gymnasium

Es fehlen grundlegende Aussagen zum Aufbau des Bildungsganges des Gymnasiums, zu den Jahrgangsstufen, insbesondere zu der wichtigen Rolle der Erprobungsstufe bei der Schullaufbahnberatung. In den bisherigen Richtlinien wird die Erprobungsstufe als eine curriculare sowie pädagogisch-organisatorische Einheit beschrieben, in der keine Versetzung stattfindet und die schulformspezifischen Zielsetzungen und Anforderungen des Gymnasiums zunehmend bestimmend werden (vgl. RL Gymnasium Sek. I Kap. 3).

Auch im Sinne der Transparenz für die Eltern im Hinblick auf eine Entscheidung für den Bildungsgang und die Schulwahl ihrer Kinder halten wir es für erforderlich, dass z.B. im dritten Absatz eine Ergänzung vorgenommen wird, die deutlich macht, dass die allgemeine Hochschulreife das genuine Ziel des gymnasialen Bildungsganges ist.

5.7 Gymnasiale Oberstufe

Dieses Kapitel kommt über einzelne Schlagworte, z.B. in der Definition der Bildungsziele, nicht hinaus. Es fehlt eine differenzierte Entfaltung der spezifischen Bildungsziele der gymnasialen Oberstufe, wie sie in den bisher geltenden Richtlinien erfolgt. Wir regen an, die wesentlichen Aussagen aus den Kapitel 1.3.1 sowie 3 der bisherigen Richtlinien unverändert zu übernehmen.

Für problematisch halten wir den Absatz zu den selbstgesteuerten Unterrichtsformaten. Mit der Formulierung „Eine stete Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrkräften zu Fragen des Fachunterrichts sowie der Laufbahnplanung ist kennzeichnend für die Gestaltung der Arbeit in der gymnasialen Oberstufe“ wird die Lehrkraft auf die Rolle des Lernbegleiters reduziert. Ihre herausragende Aufgabe im Rahmen eines anspruchsvollen Fachunterrichts gerät dabei völlig aus dem Blick. Die im Zitat angeführte Formulierung „zu Fragen des Fachunterrichts“ stützt unseren Eindruck, als ginge es nicht um fachliche Inhalte und Methoden, sondern ausschließlich um das Lernarrangement.

Selbstverständlich halten wir die zunehmende Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler für ihren persönlichen Lernprozess im Rahmen der gymnasialen Oberstufe für erforderlich. Die Lehrkraft muss allerdings weiterhin, auch im Hinblick auf die Herausforderungen durch KI, eine strukturierende und arrangierende Funktion als Fachlehrkraft behalten, um die entsprechenden Bildungs- und Erziehungsziele zu erreichen.

Mit freundlichen Grüßen

Sabine Mistler

– Vorsitzende PhV NRW –