Bereits jede zweite Lehrkraft hat Erfahrung mit Gewalt gemacht
„Rund 1.500 Teilnehmende nahmen an einer Befragung des Philologenverband NRW teil. Die Befragung ergab, dass Übergriffe gegenüber Lehrkräften sowohl von der Schülerschaft, als auch von den Eltern ausgehen. Hilfsangebote für Lehrkräfte sind an vielen Schulen gar nicht oder nur kaum bekannt.
Da ist der Schulleiter aus dem Westfälischen, der bei einem Spendenlauf von einem Vater verbal und körperlich angegriffen wird, die Kölner Lehrerin, die im Schulgebäude massiv von einem Schüler beschimpft wird, und ihrem Gesamtschulkollegen aus dem Ruhrgebiet fliegt bei der Pausenaufsicht eine Getränkeflasche an den Hinterkopf. Bedrohungen, körperliche und/oder verbale Attacken, heimlich gefilmte Videos, die den Weg aus dem Klassenraum in soziale Medien finden, Beleidigungen, falsche Beschuldigungen, Bombendrohungen – was sich liest wie eine Auflistung der Kriminalpolizei, ist für viele Lehrerinnen und Lehrer Realität.
Dass dies nicht nur für Schulen in sogenannten Brennpunkten gilt, zeigt eine Umfrage, die der PhV unter Lehrkräften gestartet hat. Rund 1500 Kolleginnen und Kollegen haben sich daran beteiligt – und teilweise beklemmende Szenen aus ihrem Berufsalltag geschildert (siehe oben). „Uns haben die Zahlen und Schilderungen schockiert“, sagt die PhV-Landesvorsitzende Sabine Mistler. „Sie zeigen deutlich, dass dringend etwas passieren muss.“
Konkret war fast die Hälfte (47%) der Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien und mehr als Dreiviertel der Lehrkräfte an Gesamtschulen (76%) in den vergangenen Jahren schon einmal persönlich von Gewalt betroffen. Gewalt meint in diesem Zusammenhang: körperliche Übergriffe, Bedrohung, Mobbing, Beschimpfung, sexualisierte Gewalt, Nötigung, Sachbeschädigung, diskriminierende Übergriffe, Cyber-Mobbing/Online-Übergriffe. Während die Kolleginnen und Kollegen an Gymnasien angeben, die Gewalterfahrungen seien eher selten, sieht die Sache an Gesamtschulen anders aus: 42% der Befragten geben an, dies geschehe häufig (35%) oder sehr häufig (7%).
Selbst wer noch keine persönlichen Erfahrungen gemacht hat, kommt dennoch nicht an dem Thema vorbei: Fast alle (95%) Lehrerinnen und Lehrer an Gesamtschulen haben in den vergangenen drei Jahren davon gehört; an Gymnasien sind es knapp acht von zehn Lehrkräften (79%). Unterschiede zeigen sich wieder bei der Häufigkeit der Vorfälle. An Gesamtschulen geben 80% der Teilnehmenden an, es geschehe häufig (50,7%) oder sehr häufig (18%), an Gymnasien sind es 27,6% und 6%.
Auch die Art der Übergriffe unterscheidet sich je nach Schulform. Während an Gymnasien Beleidigungen, Beschimpfungen und Online- oder Cyberdelikte an erster Stelle genannt sind, geht es an Gesamtschulen robuster zur Sache. Dort folgen Körperverletzungsdelikte auf Beleidigungen und Bedrohungen. Körperliche Übergriffe kommen dort laut Umfrage häufiger vor als Vergehen im digitalen Raum. Bis hin zu handfesten Morddrohungen gegen Angehörige gehen die Schilderungen; Falschbeschuldigungen und Verleumdungen gehören ebenfalls zum Kanon der Übergriffe.
Dass dies bei den Kolleginnen und Kollegen Spuren hinterlässt, belegen die Ergebnisse der Umfrage eindrücklich. Auf die Frage: „Hat sich Ihr subjektives Sicherheitsgefühl am Arbeitsort Schule in den vergangenen drei Jahren verändert?“ antworten am Gymnasium 36% der Lehrkräfte, ihre Wahrnehmung habe sich verschlechtert, an Gesamtschulen sind es 63%. Jenseits der subjektiven Wahrnehmung haben Übergriffe auch Auswirkungen auf das Handeln als Lehrkraft: Bei fast einem Drittel (28%) der gymnasialen Lehrerinnen und Lehrer ist das der Fall, an Gesamtschulen sind es 45%.
Mit Abstand am häufigsten gehen die Übergriffe laut Umfrage von Schülerinnen und Schülern aus. An zweiter Stelle werden Eltern genannt. Besonders Elterngespräche sorgen demnach für Unbehagen, sie werden häufig genannt. „Elterngespräche nicht allein führen“, lautet ein kollegialer Rat aus der Umfrage. „Ich gehe nicht ohne Unterstützung in schwierige Situationen.“ Unterstützung ist hier ein wichtiges Stichwort, denn die vermissen Lehrkräfte häufig – von Seiten des Kollegiums, aber auch durch die Schulleitung. Letztgenannte tauchen an dritter Stelle auf, als wir gefragt haben, von welchen Kreisen Bedrohungsszenarien ausgehen.
Bei der Frage, welche möglichen Hilfen oder Unterstützungsangebote sich Lehrerinnen und Lehrer wünschen würden, reichen die Antworten von Einlasskontrollen und Videokameras über die Einrichtung eines Sicherheitsdienstes oder der Implementierung eines Gewaltschutzbeauftragten bis hin zu mehr Schulsozialarbeit und/oder Schulpsychologie. Wieder sind es Schulleitungen, die in die Pflicht genommen werden: Von Ihnen wünschen sich Lehrkräfte mehr Unterstützung und Rückendeckung in brenzligen Situationen. Eine Sache brennt den Kolleginnen und Kollegen aber am meisten unter den Nägeln: „Wir dürfen das Thema nicht mehr totschweigen“, „Die Probleme müssen laut ausgesprochen werden, auch von der Politik“, „kein Verschweigen“, „Ehrlichkeit im System würde helfen, ist aber nicht vorhanden.“
- Zur Umfrage: Die Umfrage lief vom 20. September bis 15. Oktober 2023. 1.498 Personen haben sich daran beteiligt. 79 Prozent der Befragten sind an Gymnasien beschäftigt, 17 Prozent an Gesamtschulen, fünf Prozent an anderen Schulformen. Die Ergebnisse beziehen sich auf alle fünf Regierungsbezirke in Nordrhein-Westfalen, wobei die meisten Teilnehmenden in den Regierungsbezirken Köln, Düsseldorf und Arnsberg (Gymnasium) bzw. Düsseldorf, Arnsberg, Köln (Gesamtschule) beschäftigt sind. Es folgen jeweils Münster und Detmold.
Der gesamte Beitrag ist am Mittwoch, 15. November 2023, im Portal Bildungsklick erschienen.