„Lehrerinnen und Lehrer dürfen nicht allein gelassen werden“

Kategorien: PhV in den MedienVeröffentlicht: 03.01.2024

Laut einer Umfrage des Philologenverbandes NRW (PhV) hat bereits jede zweite Lehrkraft an Gymnasien Erfahrungen mit Gewalt gemacht – an Gesamtschulen sind es sogar noch mehr. Die PhV-Landesvorsitzende Sabine Mistler sagt im Interview, was sie sich von Verwaltung, Politik und den Schulleitungen für die Lehrkraft an Gymnasien wünscht.

Was können Schulleiterinnen und Schulleiter tun? Wie sollten Lehrerinnen und Lehrer, Schule und Schulaufsicht auf Gewalt reagieren? Welche pädagogischen, schulorganisatorischen und prophylaktischen Maßnahmen können die Gewalt gegenüber Lehrerinnen und Lehrern stoppen? Welche möglichen Hilfen oder Unterstützungsangebote wünschen sich Lehrerinnen und Lehrer?

Zur Umfrage: Die Umfrage lief vom 20. September bis 15. Oktober 2023. 1498 Personen haben sich daran beteiligt. 79 Prozent der Befragten sind an Gymnasien beschäftigt, 17 Prozent an Gesamtschulen, fünf Prozent an anderen Schulformen. Die Ergebnisse beziehen sich auf alle fünf Regierungsbezirke in Nordrhein-Westfalen, wobei die meisten Teilnehmenden in den Regierungsbezirken Köln, Düsseldorf und Arnsberg (Gymnasium) bzw. Düsseldorf, Arnsberg, Köln (Gesamtschule) beschäftigt sind.

Frau Mistler, laut Umfrage hat jede zweite Lehrkraft an Gymnasien bereits Erfahrungen mit Gewalt gemacht. An Gesamtschulen sind es sogar dreiviertel der Lehrerinnen und Lehrer. Sind Sie von diesen Zahlen überrascht?

Sabine Mistler: Überrascht würde ich nicht unbedingt sagen, uns war durch viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch mit Schulleitungen, klar, dass es an Schulen ein Problem mit Gewalt gibt – deshalb haben wir die Umfrage ja aufgesetzt. Allerdings musste ich schon ein wenig schlucken, als ich die Ergebnisse zum ersten Mal schwarz auf weiß gelesen habe. Klar ist nun: Gewalt mit allem, was dazu gehört, ist auch an unseren Schulformen, also Gymnasien und Gesamtschulen, allgegenwärtig. Bloß gesprochen wird darüber kaum.

Warum wird nicht darüber gesprochen, dass jede zweite Lehrkraft an Gymnasien bereits Erfahrungen mit Gewalt gemacht hat?

Mistler: Aus unserer Sicht wird das Thema nur allzu gern unter den Teppich gekehrt. Es ist also ein Tabu. Gründe dafür gibt es viele, je nachdem, in welche Richtung man blickt. Angefangen bei den Lehrkräften. Wer gibt schon gern zu, dass er oder sie zum Opfer einer Attacke geworden ist? Viele unserer Kolleginnen und Kollegen zweifeln nach Übergriffen an sich selbst und sehen in Beschimpfungen und Bedrohungen – kommen sie von Schülerinnen und Schülern oder auch durch Eltern – einen Beweis für persönliches Versagen, etwa durch fehlendes Durchsetzungsvermögen oder fehlende Autorität. Leider haben auch Schulleitungen nicht immer ein großes Interesse, sich mit dem Gewaltthema zu befassen. Wer hat schon gern jeden zweiten Tag die Polizei im Haus! Darunter leidet der gute Ruf der Schule und in der Folge möglicherweise auch die nächsten Anmeldezahlen. Da wird dann lieber sanfter (oder etwas kräftiger) Druck ausgeübt: … muss die Polizei wirklich sein … es ist doch nichts passiert … denken Sie auch mal an Folgen. Natürlich ist uns klar, dass Schulleitungen ebenfalls unter Druck stehen. Viele Eltern und die Öffentlichkeit schauen genau hin.

Was können insbesondere Schulleiterinnen und Schulleiter tun?

Mistler: Unsere Umfrage hat gezeigt, dass es an vielen Schulen kein bekanntes und transparentes Verfahren gibt, wie nach verbalen oder handfesten Übergriffen grundsätzlich zu verfahren ist. Zumindest ist es vielen Kolleginnen und Kollegen nicht bekannt. Unterstützung oder Hilfe? Häufig Fehlanzeige. An dieser Stelle sind auch wieder die Schulleitungen gefragt. Jedem Mitarbeitenden an Schule sollte klar sein, welche Hilfe und Unterstützung er oder sie erwarten kann, wenn es zu einem verbalen oder körperlichen Übergriff gekommen ist. Ein Notfallorder im Aktenschrank allein nützt niemandem. Das Wichtigste ist aus unserer Sicht, dass nach Vorfällen sich Schulleitungen ohne Wenn und Aber hinter die Lehrkraft stellen.

Wie sollten Schule und Schulaufsicht auf Gewalt reagieren?

Mistler: Wir Lehrkräfte dürfen nicht allein gelassen werden. Wir benötigen Unterstützung von der Politik, von der Verwaltung, von der Polizei und notfalls von der Justiz – Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer muss enttabuisiert werden. Wir wünschen uns, dass es neben Personalräten an jeder Bezirksregierung eine feste Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner gibt, die oder der auch juristische Kenntnisse hat und sich nicht nur so nebenbei mit Vorfällen an Schulen und Beratungen von Lehrerinnen und Lehrern beschäftigt. Vom zuständigen Ministerium wünschen wir uns klare Kante, es muss umgesetzt werden, was die Ministerin, laut Medienberichten, zu unserer Umfrage gesagt hat: „Wer gewalttätig wird, verstößt gegen eine der ganz zentralen Grundregeln unseres Zusammenlebens. Deshalb werden wir Gewalt an unseren Schulen in keiner Form akzeptieren.“

Unterscheiden die Formen der Gewalt sich je nach Schulform?

Mistler: Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien haben bei unserer Umfrage zuerst Beleidigungen, Beschimpfungen und Online – oder Cyberdelikte genannt, dagegen scheint es an Gesamtschulen robuster zur Sache zu gehen. Dort folgen Körperverletzungsdelikte auf Beleidigungen und Bedrohungen. Körperliche Übergriffe kommen dort häufiger vor als Vergehen im digitalen Raum. Falschbeschuldigungen und Verleumdungen werden ebenfalls genannt.

Könnte es nicht sein, dass manche Lehrkraft einfach ein bisschen zu dünnhäutig ist?

Mistler: Während die Kollegin X einen flotten Spruch aus der vorletzten Reihe weglächelt oder mit gleichem Kaliber kontert, ist Kollege Y dazu nicht bereit. Und nun? Ist Herr Y zu dünnhäutig, überempfindlich oder gar eine Spaßbremse? Ist Frau X die bessere Lehrkraft, weil ihre Zündschnur länger ist? Um es klar zu sagen: Wer beleidigt, angegriffen, bedroht oder im Internet bloßgestellt wird, ist daran weder selbst schuld noch zu Recht zum Opfer geworden. Wer sich an einer solchen Diskussion beteiligt, betreibt Täter-Opfer-Umkehr und schadet den Kolleginnen und Kollegen zusätzlich. Solidarität ist leider oftmals auch in Lehrerzimmern ein scheues Reh.

Worin sehen Sie die Ursachen von Gewalt gegenüber Lehrerinnen und Lehrern?

Mistler: Danach haben wir in unserer Umfrage nicht gefragt, vor allem, weil die Auslöser häufig situativ bedingt sind. Aus Erfahrung und vielen Gesprächen mit unseren Mitgliedern wissen wir aber, dass die Situation sich in den vergangenen Jahren nicht gebessert hat. Allerdings gibt es nicht den einen Grund, es ist eher das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Grundsätzlich ist es doch so, dass Respekt anderen Menschen gegenüber heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist. Davon können nicht nur Lehrkräfte ein Lied singen, sondern viele Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes. Die Zündschnur ist bei vielen so kurz, wenn was nicht passt, schalten sie um auf Attacke, dann fliegen böse Worte – und mitunter Fäuste. Hinzu kommt die Dauerbeschallung vieler Kinder und Jugendlichen durch soziale Medien. Dort sind Gewaltdarstellungen oft nur einen Mausklick entfernt, respektvollen Umgang miteinander lernt bei Tiktok und Co. gewiss keine Schülerin und kein Schüler. Manchmal sind auch Eltern keine guten Vorbilder. Wenn zuhause Probleme immer nur konfrontativ gelöst werden, schwappt so ein Verhalten natürlich in die Schulen.

Welche pädagogischen, schulorganisatorischen und prophylaktischen Maßnahmen können die Gewalt gegenüber Lehrerinnen und Lehrern stoppen?

Mistler: Stoppen ist ein sehr frommer Wunsch. Die beste Prophylaxe ist eine klare Haltung: An unserer Schule dulden wir keine Gewalt. Punkt. Egal, welchen Personen gegenüber. Wer sich nicht daran hält, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Schülerinnen und Schüler müssen noch viel intensiver über ihr Tun und mögliche, zur Not auch strafrechtliche, Konsequenzen aufgeklärt werden. Eltern müssen wissen, dass sie nicht nur eine Mitverantwortung haben, und Beschimpfungen und Drohungen sollten ebenso als klare Regelverstöße deklariert werden wie körperliche Gewalt.

An den Schulen müsste das Thema enttabuisiert werden. Es müssten klare Absprachen getroffen, die über die Schulkonferenzen von den Eltern, Schülerinnen und Schülern gleichermaßen auch getragen werden. Insgesamt wäre eine bestimmte Bandbreite an Unterstützung nötig, auf die Schulen je nach Bedarf Zugriff haben. Zusätzliches Personal aus Sozialpädagogik und Schulpsychologie, die am Ort sind, helfen ebenfalls sehr und das sowohl präventiv als auch nach Vorfällen von Gewalt. Insgesamt ist die Kultur des Miteinanders und der gegenseitigen Wertschätzung sowie das Verhalten nach demokratischen Grundsätzen unabdingbar. Um dieses an Schule leben zu können, benötigen wir Zeit. Diese Zeit fehlt den meisten Lehrkräften, die in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben übernehmen und sich neuen Herausforderungen stellen mussten, darunter fallen auch die Schulleitungen. Daher benötigen Schulen entlastende Strukturen, eine angemessene Aufgabenkritik und vor allem Hilfen durch externes Personal. Wenn einem Fluss zu viel Wasser zugeführt wird, tritt er irgendwann über die Ufer und richtet, wie wir aus der jüngsten Vergangenheit wissen, großen Schaden an. Vor einem perspektivischen großen Schaden muss unser Bildungssystem unbedingt bewahrt werden, für die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte und unsere Gesellschaft.

Das gesamten Interview über Gewalterfahrungen der Lehrkraft an Gymnasien ist in der Fachzeitschrift Schulleitung A-Z Nordrhein-Westfalen erschienen.

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