Lehrkraft-Sein ist mehr als Unterricht: Die Landesregierung muss das Potential eines Arbeitszeitmodells für Lehrkräfte in NRW nutzen (SPD-Stellungnahme/Landtag)
SDP-Stellungnahme vom Philologenverband NRW kritisch beleuchtet
Stellungnahme des
Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen
zu Lehrkraft-Sein ist mehr als Unterricht: Die Landesregierung muss das Potential eines Arbeitszeitmodells für Lehrkräfte in NRW nutzen
Antrag der Fraktion der SPD, Drucksache 18/6385 (Neudruck)
Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung
am 23. Januar 2024
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Kuper,
vielen Dank für die Einladung zur Anhörung von Sachverständigen des Ausschusses für Schule und Bildung zum Antrag der Fraktion der SPD, Drucksache 18/6385, am 23. Januar 2024:
Zu I:
Der Antrag stellt nachvollziehbar dar, dass sowohl der Lehrkräftemangel, die gestiegenen Anforderungen und Erwartungen an die Lehrkräfte u.a. durch den schnellen Auf- und Ausbau der Digitalisierung als auch durch Lernrückstände und psychosoziale Belastungszustände bei Schülerinnen und Schülern durch die Coronapandemie bei den Lehrkräften zu einer sehr hohen Belastungszunahme im Beruf geführt haben. Dieser Beschreibung ist ohne Einschränkung zuzustimmen.
Sowohl die angeführte Befragung der Robert-Bosch-Stiftung (2022) als auch andere Befragungen und Studien bestätigen diesen Befund. Es muss allerdings erwähnt werden, dass bereits vor der Coronapandemie die Herausforderungen an den Beruf der Lehrkräfte enorm zugenommen hatten. Diese sind multifaktoriell. Beispielhaft seien hier nur einige aufgezählt:
- Zu geringe Gesamtausgaben für Schule und Bildung im Vergleich zu anderen europäischen Staaten.
- Eine verfehlte Einstellungspolitik durch fehlende Bedarfsanalysen in NRW.
- Überlastung durch zu viele unterrichtsferne Aufgaben.
- Verlagerung von elterlicher Verantwortung auf die Schulen.
- Zu starker Reformaktionismus/fehlende Kontinuität in NRW.
Der PhV NRW sieht dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung der Arbeitssituation der Lehrkräfte. Den eindeutigen Befunden der einschlägigen Studien zur Lehrkräftearbeitszeit muss endlich Rechnung getragen werden. Wir sehen allerdings keine grundsätzliche Lösung in einem Umstieg vom Deputatsmodell zu einem Arbeitszeitmodell.
Dazu zunächst einige allgemeine Anmerkungen:
Der Zuwachs an Teilzeitbeschäftigung unter Lehrkräften ist nicht zu leugnen. Unabhängig von einer gleichermaßen zu beobachtenden Änderung der Einstellung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der hohen Anzahl an jüngeren Lehrkräften mit Kindern unter 18 Jahren ist es nicht akzeptabel, dass viele (vor allem auch ältere Lehrkräfte) ihre Unterrichtsstunden reduzieren müssen, um beispielsweise Korrekturentlastung zu erfahren und ihrem Anspruch an guten Unterricht genügen zu können. Vor allem bei Sek-II-Lehrkräften sind die Korrekturen ein besonders hoher Belastungsfaktor. Der Aufwand für Korrekturen hat sich durch veränderte Formate und auch erweiterte Klassenarbeits-/Klausurzeiten in den vergangenen Jahren zusätzlich erhöht. Der PhV NRW sieht hier die Möglichkeit von Entlastungen durch eine deutliche Erhöhung der Anrechnungsstunden für Korrekturen und sonstige Aufgaben, um entsprechend angemessen, flexibel und zeitnah auf besondere Belastungen reagieren zu können. Darüber hinaus müssten auch die Anforderungen an Formate und Zeit der Klassenarbeiten und der Klausuren überprüft werden. Diese müssten im Rahmen eines Gesamtkonzeptes, unter Berücksichtigung der KMK-Vorgaben, angepasst werden.
Die weitere Zunahme der Krankheitstage (nach aktuellen Krankenstandsstatistiken) auch bei den Sek-II-Lehrkräften, ist ganz besonders auffällig. Gehandelt wird allerdings nicht. So hält man selbst nach zwei abgeschlossenen Copsoq-Runden, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Lehrerinnen und Lehrer v.a. an den Gymnasien und Gesamtschulen stark Burnout-gefährdet sind, ausschließlich an Maßnahmen fest, die im Sinne einer Verhaltensprävention laufen. Es ist aber aus unserer Sicht unabdingbar, endlich die Verhältnisse anzugehen. Nur dadurch werden die Lehrkräfte dauerhaft entlastet, gestärkt und motiviert werden können.
Was wir nicht vergessen dürfen, sind die unkoordinierte Schließung vieler Förderschulen, mancherorts gegen den erklärten Willen der Eltern, sowie die enormen Zahlen von Schülerinnen und Schülern, die in den vergangenen Jahren über Migration an unsere Schulen gekommen sind. Gleichzeitig übernehmen Kolleginnen und Kollegen immer mehr Verantwortung für unterrichtsferne Aufgaben, während Eltern sich immer öfter ihrer Bildungsverantwortung entziehen. Ohne spürbare Entlastungen können unsere Kolleginnen und Kollegen ihrer eigentlichen Arbeit kaum noch nachgehen – nämlich Expertinnen und Experten für guten Unterricht zu sein.
Was wir brauchen, sind neben der deutlichen Erhöhung von Anrechnungsstunden und Entlastung von unterrichtsfernen Aufgaben auch eine deutliche Reduzierung des Stundendeputats. Das gegenwärtige Pflichtstundendeputat, das ohnehin das Ergebnis von zwei Pflichtstundenanhebungen in den Jahren 1998 und 2004 darstellt, müsste auf den ursprünglichen Stand gebracht werden. Uns ist bewusst, dass diese Forderungen nicht kostenneutral sind. An den Gymnasien darf der Bedarf nach dem Ausbau von G9 nicht unterschätzt werden. Wir müssen unbedingt verhindern, dass wir auch dort sehenden Auges in einen großen Unterhang geraten, obwohl wir diesem durch weitere Einstellungen vorbeugen könnten. Wir erkennen also, dass eine Verbesserung der Attraktivität des Lehrerberufs mit einhergehenden Entlastungen in keinem Fall kostenneutral zu erreichen ist.
Anmerkungen zu dem Vorschlag der Ablösung des Deputatsmodells zugunsten eines Arbeitszeitmodells:
Der Planung einer, wie auch immer gearteten Optimierung der Arbeitssituation und somit Entlastung und gerechteren Arbeitszeit, muss zunächst einmal eine Entscheidung des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil über einen Gesetzentwurf im Zusammenhang mit dem EuGH-Urteil von 2019 und dem BAG- Urteil von 2022, vorausgehen.
Auch wenn die KMK gesetzliche Sonderregelungen für Lehrkräfte fordert, kann man eher davon ausgehen, dass auch die Lehrkräfte sich dieser Erfassung stellen müssen. Es heißt, dass die Erfassung objektiv, verlässlich und für die Beschäftigten zugänglich erfolgen muss. Der Arbeitgeber ist verantwortlich für die Einhaltung aller Kriterien.
Die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung steht laut erstem Referentenentwurf dem Modell der Vertrauensarbeitszeit nicht im Wege, wobei auch hier selbstverständlich die gesetzliche Höchstdauer der Arbeit und Ruhezeiten gelten. Der PhV NRW bewertet die Vertrauensarbeitszeit grundsätzlich positiv, da sie den Lehrkräften wichtige Spielräume für eigenverantwortliches Arbeiten außerhalb der Präsenzzeiten in der Schule eröffnet. Ein auf der Faktorisierung beruhendes Arbeitszeitmodell sieht der PhV NRW hingegen kritisch, da bei der Zuweisung von Zeitkontingenten die Gefahr willkürlicher Setzungen gegeben ist, so dass die tatsächliche zeitliche Inanspruchnahme der Beschäftigten nicht angemessen abgebildet wird.
Daher fordert der PhV im Falle der Einführung der Arbeitszeiterfassung, dass die Zeit in der Schule als Ganzes erfasst werden muss (Bruttoarbeitszeit). Die auf die Unterrichtszeit beschränkte Erfassung reicht nicht aus, um der Erfassungspflicht der über die Lehrtätigkeit hinausgehende Arbeitsleistung Genüge zu tun. Außerhalb des Schulgebäudes hat die Erfassung der Arbeitszeit separat zu erfolgen. Zu dieser Erfassung gehören neben der Vor- und Nachbereitung von Unterricht auch Korrekturen, Klassenfahrten, Elterngespräche und vieles mehr.
Das Hamburger Modell krankt aus unserer Sicht daran, dass es vom Gesetzgeber unter Vorgabe einer Kostenneutralität aufgestellt wurde. Dies bedeutet, dass dem Prinzip einer gerechteren Verteilung von Arbeitszeit zwar vermeintlich Rechnung getragen werden kann, allerdings nicht dem Wunsch nach notwendiger Entlastung. Mehrarbeit wird in Hamburg beispielsweise in die Arbeitszeitkonten eingepreist, etwa für Korrekturen. Benötigt eine Lehrkraft aber mehr Zeit als durch diese Faktorisierung vorgesehen, dann ist dieser Mehraufwand nicht abgedeckt und mündet de facto in unbezahlte Mehrarbeit. Bei der Faktorisierung für Klausuren z.B. ist ein Mittelwert angesetzt worden, der weit unter der realen Korrekturzeit liegt.
Bereits durch die zweifache Evaluierung (2005 und 2008 durch die sog. Behler Kommission), wurde Reformbedarf u.a. in folgenden Bereichen herausgestellt:
- Motivationsverlust der Lehrkräfte und eine Beeinträchtigung des außerschulischen Schullebens (2005/2008).
- Die Faktorisierung berücksichtigt nicht die unterschiedlichen Größen von Klassen und Kursen und den damit verbundenen unterschiedlichen Zeitaufwand bei den Korrekturen (2008). Dies wurde bis heute nicht angepasst!
- Hamburg hat laut Statistischem Bundesamt mit 52% aller Lehrkräfte die höchste Teilzeitquote bundesweit. Dies mag nicht allein auf das Arbeitszeitmodell zurückzuführen sein, dennoch liegt ein Zusammenhang auf der Hand. Zumindest kontrastiert dieser Befund mit der im Antrag
aufgestellten These, durch die Einführung eines dem „Hamburger Modell“ vergleichbaren, auf der Faktorisierung beruhenden Arbeitszeitmodells ließe sich eine Verringerung der Teilzeitquote im Schulbereich bewirken.
Ein Nachteil gegenüber dem Deputatsmodells mit einer deutlichen Verringerung der unterrichtsfernen Aufgaben bzw. Verwaltungsaufgaben und einer entsprechenden Anhebung der Anrechnungsstunden liegt darin, dass in dem Arbeitszeitmodell (zumindest bislang) nicht individuell und zeitlich flexibel auf die Situation einzelner Lehrkräfte eingegangen werden kann.
Zu II:
Den hier aufgelisteten Aspekten kann nicht widersprochen werden. Zu ergänzen ist die Veränderung der Schülerschaft, u.a. aufgrund der Migration und der Schließung vieler Förderschulen.
Zu III:
Forderung nach gemeinsamer Entwicklung eines gerechten, zeitgemäßen und vergleichbaren Arbeitszeitmodells für Lehrkräfte
Der PhV NRW ist davon überzeugt, dass auch ein Deputatsmodell gerecht, zeitgemäß und vergleichbar die Arbeitszeit der Lehrkräfte mit ihren unterschiedlichen Aufgaben an den unterschiedlichen Schulformen abbilden kann. Die zweifelsohne notwendige Verbesserung der Situation lässt sich aus Sicht des PhV NRW am ehesten durch eine Reduzierung von unterrichtsfremden Tätigkeiten, eine deutliche Anhebung der Anrechnungsstunden, eine Reduzierung des Pflichtstundendeputats und eine Fokussierung auf das pädagogische Kerngeschäft des Unterrichtens erzielen.
Düsseldorf, den 08. Januar 2024
Mit freundlichen Grüßen
gez. Sabine Mistler
(Vorsitzende PhV NRW)