Stellungnahme zum schulformübergreifenden Kernlehrplan für die Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen – Praktische Philosophie
STELLUNGNAHME
des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen
(PhV NRW)
zum schulformübergreifenden Kernlehrplan für die
Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen
Praktische Philosophie
(Durchführung der Verbändebeteiligung gem. § 77 Abs 3. SchulG)
I. Allgemeiner Teil:
Der PhV NRW nimmt im Folgenden ausführlich Stellung zum Entwurf des neuen KLP für das Fach Praktische Philosophie in der SEK. I. In einem ersten allgemeinen Teil machen wir zunächst grundsätzliche Anmerkungen zu übergeordneten Aspekten des Entwurfs:
- Wir verweisen auf unsere fachbezogenen Hinweise, die wir im Rahmen der Novellierung des KLP PP vor einem Jahr abgegeben haben. Diese Hinweise wurden nur zum Teil berücksichtigt. Insbesondere unsere darin enthaltene Forderung nach einem schulformspezifischen KLP blieb unberücksichtigt.
- Wir erheben ausdrücklich Protest gegen die Konzeption eines schulformübergreifenden Kernlehrplans für das Fach Praktische Philosophie! Weder im Entwurf selbst noch bei der Präsentation durch das QUALiS wird bzw. wurde eine Begründung dafür gegeben, dass das Fach Praktische Philosophie am Gymnasium das einzige Fach ohne einen schulformspezifischen Lehrplan bzw. ohne ausgewiesene Kompetenzerwartungen für das Gymnasium ist. Es finden sich lediglich an zwei Stellen im Entwurf unspezifische Hinweise auf die Umsetzung in den jeweiligen Bildungsgängen:S. 10: „Die zu erzielenden Lernergebnisse sind in diesem Kernlehrplan schulformübergreifend formuliert. Die Entfaltung der Inhalte sowie der Erwerb der Kompetenzen ist gleichwohl an den Zielen des jeweiligen Bildungsganges auszurichten. Dieser Maßgabe folgend stellen die Lehrkräfte orientiert an der jeweiligen Lerngruppe Vertiefungs- und Ausprägungsgrad der Könnens-und Wissensziele sowie die Komplexität der für die Lehr-und Lernarrangements gewählten Medien und Mittel sicher.“S. 15: „Der Kernlehrplan Praktische Philosophie wurde als schulformübergreifender Kernlehrplan gestaltet. Die ausgewiesenen Inhalte und Kompetenzen sind unter Berücksichtigung der jeweiligen Ziele des Bildungsganges in Tiefe und Breite zu entfalten und angemessen umzusetzen.“
Diese beiden Hinweise sind in ihrer Allgemeinheit völlig unzureichend und sichern in keiner Weise den gymnasialen Anspruch an dieses Fach.Man wird damit insbesondere nicht der wachsenden Bedeutung des Faches Praktische Philosophie gerecht. An fast allen Gymnasien wird das Fach PP mittlerweile von der Stufe 5-10 unterrichtet und von immer mehr Schülerinnen und Schülern gewählt. Dies kommt unter anderem durch den Zuzug von Schülerinnen und Schülern mit nicht-christlichem Bekenntnis zustande bzw. dadurch, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler keiner Konfession angehören. Das Fach PP leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zur Integration und zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft (zu den religionskundlichen Aspekten, die eindeutig zu kurz kommen, siehe unten). Es hat außerdem als durchgehendes „Ersatzfach“ für den Religionsunterricht eine sehr hohe Schülerfrequenz.
Aufgrund dieser völlig veränderten Situation wäre auch das Argument, dass bereits der bisherige Kernlehrplan Praktische Philosophie von 2008 schulformübergreifend konzipiert war, nicht nachvollziehbar.
Ein einheitlicher KLP für alle Schulformen ist darüber hinaus auch nicht sachangemessen. Der Unterricht im Fach PP, insbesondere in den Jahrgangsstufen 9 und 10, leistet eine Vorbereitung auf den Oberstufenunterricht. Dies geschieht beispielsweise durch den Umgang mit Texten, der Einführung der kantischen W-Fragen usw.
Wir fordern daher mit Nachdruck, einen eigenen KLP PP für die Schulform Gymnasium zu erstellen oder zumindest eigene schulformspezifische Kompetenzerwartungen zu formulieren.
- Wir begrüßen ausdrücklich den bedachten Zeitplan für die Umsetzung des KLP: Er tritt zwar zum August 2024 in Kraft, begibt sich dann allerdings für ein Schuljahr in die Implementierungsphase, so dass erst ab dem Schuljahr 2025/26 die aufsteigende Umsetzung erfolgt. Dadurch bleibt genügend Zeit, jetzt noch (auch grundlegende) Änderungen am Entwurf vorzunehmen.
- Formulierung und Konzeption der alten Fragenkreise sahen allein aufgrund ihrer besseren Abgrenzung eine deutlich sachangemessenere Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Schwerpunkten vor. Die neu konzipierten Inhaltsfelder bieten aufgrund fehlender Klarheit zu wenig Orientierung. Insbesondere die Inhaltsfelder 3 und 5 müssen überarbeitet werden, da sie keine nachvollziehbare Sachstruktur vorgeben. Begriffe wie Freiheit, Verantwortung, Werteorientierung und Nachhaltigkeit werden nicht eindeutig definiert bzw. in einem unklaren Durcheinander kombiniert (siehe unten). Dieses Problem setzt sich teilweise bei den inhaltlichen Schwerpunkten und konkretisierten Kompetenzerwartungen fort.Übersichtlicher wären sechs Inhaltsfelder, auch um sich der Oberstufe anzunähern: Z.B.
– Ich selbst;
– Ich und die anderen;
– Zusammenleben in Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat;
– moralisch Urteilen und Handeln;
– Sinnsuche und Lebensentwürfe in Philosophie und Weltreligionen;
– menschliche Erkenntnis.
- Die konkretisierte Kompetenzerwartungen sind zum Teil immer noch zu abstrakt formuliert bzw. in ihrer Begrifflichkeit zu unbestimmt. Hinzu kommt ein teilweise sehr hohes Anforderungsniveau.
- Die deutliche Reduzierung des religionskundlichen Teils ist gerade in der aktuellen Situation, aber auch weit über sie hinaus, kontraproduktiv. Dialog kann nur gelingen, wenn ich weiß, worüber ich rede. Die Notwendigkeit von Sachwissen unterstrich beispielsweise in besonderer Weise die von der Ministerin erbetene Thematisierung des Überfalls der Hamas auf Israel. So weiß die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler kaum noch etwas über das Judentum. Hier muss das Fach Praktische Philosophie die Kenntnisse vermitteln, die sonst in den Religionslehrern auch religionsübergreifend thematisiert werden. Bisher war für jeden Doppeljahrgang ein inhaltlicher Schwerpunkt zu den Religionen Im aktuellen Entwurf fehlen diese Schwerpunkte komplett.
- Grundsätzlich sollte stärker beachtet werden, dass im Fach Praktische Philosophie genügend Freiraum für Vertiefungen ausgerichtet an den Interessen der Schülerinnen und Schülern besteht.
- Wir bitten darum, dass so wie angekündigt rechtzeitig die notwendigen Unterstützungsmaterialien, besonders die Vorlage für den schulinternen Lehrplan, zur Verfügung gestellt werden.
II. Konkrete Hinweise:
1. Aufgaben und Ziele des Faches
Die beschriebenen Aufgaben und Ziele des Faches finden unsere Zustimmung. Eine Abgrenzung zum Religionsunterricht im Sinne von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, wie bisher, fehlt. Diese könnte man noch ergänzen. Die Erläuterungen zum erweiterten Textbegriff sind nachvollziehbar.
2.1. Kompetenzbereiche und Inhaltsfelder des Faches
Die Angleichung der Kompetenzbereiche an den KLP Philosophie der Oberstufe ist im Sinne der Anschlussfähigkeit zu begrüßen.
Die Benennung der Inhaltsfelder ist nicht sehr hilfreich. Insbesondere beim Inhaltsfeld 3 (Verantwortung) und Inhaltsfeld 5 (Gegenwart und Zukunft) sollte geändert werden. Es geht in beiden Inhaltsfeldern um verantwortliches Handeln. Beim Inhaltsfeld 3 bzw. 5 sollte eine Verengung auf den Aspekt der Verantwortung (Verantwortungsethik) vermieden und auch andere ethische Positionen angelegt werden (Pflicht, Tugend, Nutzen, Diskurs etc.).
Wir haben hier inhaltlich und auch sprachlich eine Dopplung im Inhaltsfeld 3 und 5! In beiden Inhaltsfeldern heißt es, es gehe schwerpunktmäßig um „das menschliche Handeln und die damit verbundene Verantwortung des Menschen für sich selbst und die Welt“! (S. 13). In 5 soll es um das Spannungsverhältnis von Gegenwart und Zukunft gehen, also um Nachhaltigkeit. Das deckt sich aber auch mit 3, wo der Aspekt der Freiheit problematisiert werden soll. Man müsste die beiden Inhaltsfelder daher konsequenterweise zusammenziehen zu einem.
Die Ausführungen unter Inhaltsfeld 5 sind außerdem nicht ganz konsistent. Die genannten Gegenstände „Krieg und Frieden, Konsumgewohnheiten und Konsumverantwortung sowie ökologische Krisen“ scheinen willkürlich gewählt. Krieg und Frieden unter dem Aspekt von Nachhaltigkeit zu sehen, ist außerdem nicht nachvollziehbar. Vor allem fehlt dabei völlig die Perspektive Vergangenheit.
Das Inhaltsfeld 6 (Sinnsuche und Lebensentwürfe), das inhaltlich an die Stelle des ehemaligen Fragenkreises 7 (Die Frage nach Ursprung, Zukunft und Sinn) getreten ist, ist geradezu entkernt und weist zum FK 7 kaum noch Parallelen auf. Der alte FK 7 hatte eine starke religionskundliche Prägung, die angesichts einer multireligiösen Gesellschaft einer Stärkung bedurft hätte. Stattdessen schwindet gerade dieser Anteil und das IF 6 wird stark in den Bereich des Subjektiven verschoben. Den Schülerinnen und Schülern geht somit kulturelle Kompetenz (Was bedeuten religiöse Symbole?, Was bedeuten religiöse Riten?, Warum haben wir heute schulfrei?, Wie denken unterschiedliche Religionen über Gott?, Was eint und was trennt Religionen? Usw.) verloren. Ihre Fähigkeit zur Erfassung und Deutung der sie umgebenden Umwelt schwindet (noch) weiter.
Redundant und inhaltlich nicht weiterführend sind die beiden inhaltlichen Schwerpunkte, die zum Inhaltsfeld 6 für Stufe 5/6 und 7-10 angegeben werden. Sie sind nämlich identisch: Leben(sgestaltung) und Grenzerfahrungen. Man könnte direkt als inhaltlichen Schwerpunkt bei 7-10 z.B. „Glück und Sinn“ nehmen. Auch die entsprechenden Sachkompetenzen sollte man noch besser aufeinander beziehen. Der häufig verwendet Begriff der Grenzerfahrungen ist inhaltlich unklar und wird nur zum Teil erklärt. Es sollte auch grundsätzlich um Endlichkeit des Menschen gehen und die Folgen für die Frage nach dem Sinn.
Im Inhaltsfeld 2 (Zwischenmenschliche Beziehungen) fehlen völlig Aspekte von partnerschaftlicher Liebe und Beziehung. Es wird zu sehr auf unterschiedliche Wertvorstellungen und Weltanschauungen sowie auf Vielfalt abgehoben, was an dieser Stelle unpassend ist.
2.2 Kompetenzerwartungen und inhaltliche Schwerpunkte bis zum Ende der Erprobungsstufe bzw. der Klasse 6
Sachkompetenz (S. 15)
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- „erklären die Bedeutung von Vielfalt für das Leben in einer pluralen Welt“: hier wird offensichtlich keine diskursive Erörterung gewünscht, sondern lediglich die Aneignung gesetzter Normen (Vielfalt ist bedeutsam); ein solcher Ansatz widerspricht dem Wesen des Philosophieunterrichts.
- „erfassen grundlegende Werte und Normen von Nachhaltigkeit“: Wer setzt diese Normen? An welcher Stelle werden sie (kritisch) hinterfragt? Auch hier scheint es eher um Überwältigung als um verstandesmäßige Aneignung zu gehen.
Seite 18, IF 1, Urteilskompetenz
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- „begründen die Relevanz von Emotionen und Fähigkeiten für den Entwicklungsprozess“: auch hier erfolgt abermals keine Problematisierung, Emotionen werden als relevant gesetzt, die mit ihnen auftretenden Probleme aber nicht als behandelnswert benannt.
Seite 18, IF 2, Sachkompetenz
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- „…auch unter Berücksichtigung von Weltreligionen…“: hier wird die mangelnde Tiefe des IF 6 deutlich, die Erarbeitung wird nicht explizit benannt; Religionen, Wert- und Glaubensvorstellungen werden lediglich in ihrer Funktionalität betrachtet.
Seite 18, IF 2, Urteilskompetenz
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- „unterschiedliche Formen eines respektvollen und verantwortungsbewussten Zusammenlebens“ sollen erörtert werden „auch unter Berücksichtigung von Weltreligionen bzw. Wert- und Glaubensvorstellungen sowie unter Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“: völlig verschiedene Dinge (Weltreligionen, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt) werden in linearer Abfolge genannt. Die Setzung der beiden zu berücksichtigenden Bereiche ist nicht sachlogisch, eine Erarbeitung der Grundlagen ist in den Sachkompetenzen nicht grundgelegt.
Seite 19, IF 3, Sachkompetenz
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- Bevor Beziehungen zwischen Mensch und Tier beschrieben werden können, braucht es eine Erarbeitung, was Mensch und Tier eigentlich sind. Ansonsten kann sich der Grad der Tiefe nur auf Aussagen wie „Der Dackel, der beste Freund des Menschen“ beschränken. Schlimmstenfalls wird suggeriert, dass es sich um Beziehungen zwischen Gleichen handelt. Dies gilt ebenso für den zweiten Punkt, der die Erarbeitung von Konsequenzen „hinsichtlich eines verantwortungsvollen Umgangs des Menschen mit Tieren und der Natur“ einfordert. Die Frage „Was ist der Mensch?“ und eine Antwort auf dieselbe ist jedoch Voraussetzung für eine fundierte Antwort.
Seite 19, IF 3, Urteilskompetenz
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- Der erste Punkt ist mindestens zweideutig formuliert. Zu fragen ist, ob es diese Verantwortung des Menschen überhaupt gibt.
- Der dritte Punkt ist mehr als herausfordernd, da bisher nicht grundgelegt ist, was Wahrheit überhaupt ist.
Seite 20, IF 5, Inhaltlicher Schwerpunkt und Sachkompetenz
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- Die Verbindung von Lernen und Leben unter dem Begriff der Nachhaltigkeit ist nicht nachvollziehbar, ebensowenig die folgenden Sachkompetenzen dazu.
- Wie hängen die Bedeutung kritischen Denkens und die Verantwortungsübernahme für Lernprozesse zusammen (erster Punkt)?
- Ist unter Punkt zwei tatsächlich gemeint, dass eine Dokumentation des eigenen alltäglichen Konsumverhaltens erfolgen soll? Das wäre übergriffig.
Seite 21, IF 6, Sachkompetenz
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- Der Begriff „Privilegien“ unter dem dritten Punkt ist zu politisch und sollte ersetzt werden (z.B. Armut und Reichtum, soziale Faktoren)
- Der vierte Punkt setzt eine Erarbeitung voraus, die nicht angelegt ist. Sie war im alten Fragenkreis 7 ausdrücklich vorgesehen.
Seite 23, Sachkompetenz
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- Erster Punkt: Offen bleiben viele Fragen: Wer trägt Verantwortung? Gegenüber wem? Warum ist er überhaupt fähig zur Übernahme von Verantwortung? (Freiheit!), Was ist „globale Verantwortung“ in Abgrenzung zur „eigenen Verantwortung“?
- Siebter Punkt: Abermals wird Vielfalt als bedeutsam gesetzt, aber nicht hinterfragt.
Seite 28, IF 3, Sachkompetenz
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- Erster Punkt: Verantwortung kann nur angenommen werden, wenn Freiheit existiert. Das Spannungsverhältnis existiert so, wie es hier beschrieben wird, schlicht nicht. Möglich wäre eine Umformulierung: Freiheit in Verantwortung.
- Zweiter Punkt: „formulieren werteorientiert“: Welche Werte sind hier gemeint?
Seite 30, IF 5, Sachkompetenz:
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- Zweiter Punkt: Die Aufzählung der Krisen bedarf einer Öffnung (z. B., u. ä.), besser noch einer Ergänzung, wie schon allgemein zum IF 5 angemerkt.
Seite 31, IF 6, Sachkompetenz:
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- Sechster Punkt: Woran soll das Verhältnis untersucht werden? Christentum? – Dann geht es gut aus.; Buddhismus? – Dann sieht es schlecht aus?
3. Lernerfolgsüberprüfung und Leistungsbewertung
In keinem anderen Kernlehrplan findet sich bisher die folgende Formulierung zum Beurteilungsbereich „Sonstige Leistungen im Unterricht“: (Der Stand der Kompetenzentwicklung…wird durch …) „sowie in hilfsmittelfreien und hilfsmittelgestützten Anforderungssituationen festgestellt“ (S. 34). Hier wäre eine Erläuterung hilfreich, worauf sich dieser ausdrückliche Hinweis bezieht und warum er notwendig ist. Beides geschieht ja bereits. Oder sind neue Prüfungsformate damit gemeint?
Düsseldorf, den 27.03.2024
gez. Sabine Mistler
– Vorsitzende –