Die Lehrer wehrlos – die Täter geschützt
“(…) Zuvor hatte für das bevölkerungsreichste Land NRW der Philologenverband (PhV) Lehrer befragt. 76 Prozent der Lehrkräfte an Gesamtschulen und 47 Prozent an Gymnasien erklärten, in den vergangenen Jahren Gewalt erlitten zu haben, 15 Prozent der Gymnasiallehrer und 42 Prozent der Gesamtschullehrer sogar häufig oder sehr häufig. Knapp die Hälfte der Übergriffe waren Beschimpfungen oder Bedrohungen, gut zehn Prozent körperliche Gewalttaten. „Der Unterricht wird durch die Gewalt ernsthaft beeinträchtigt. Wenn sich das nicht ändert, werden die Lehrkräfte bald nicht mehr ihrem Staatsauftrag nachkommen können“, mahnt Paul Meurer, Schulleitungsreferent beim NRW-PhV. (…)
Auch laut Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) beobachten 20 Prozent der Lehrer in Deutschland, dass die „Meldung von Gewaltvorfällen von den Schulbehörden nicht gewünscht“ sei. Dahinter stehe Sorge um den Ruf der Schule und Angst vor Konflikten, beobachtet Julia Nellessen. Den Versuch, Gewalt unter der Decke zu halten, hält die Bottroper Gesamtschullehrerin und PhV-Personalrätin im digitalen Zeitalter allerdings für meist chancenlos. Was ihr jüngst eine Attacke vor Augen führte, die zwei Kollegen erlitten: In der Pause wollten sie an einem Kellereingang nach dem Rechten sehen. Sie stiegen eine Treppe hinab. Plötzlich krachte und knallte es um sie herum. Sie wurden von Schülern mit Böllern beworfen. Sofort bildete sich eine Traube mit gezückten Handys – und filmte. So laufe es oft ab, sagt Nellessen: „Lehrkräfte werden nicht nur Opfer von Gewalt, Aufnahmen von solchen Straftaten tauchen häufig auch in den sozialen Netzwerken auf.“
Auch die Personalrätin hält die innerschulischen Ahndungsmöglichkeiten für „völlig ungenügend und nicht zeitgemäß. Um einen Gewalttäter der Schule verweisen zu können, müssen zuvor meist mehrere Ordnungsmaßnahmen wie Tadel oder Rügen gegen ihn verhängt worden sein“, berichtet sie. Geht ein Gewalttäter auf seinen Schulabschluss zu, ist er noch besser geschützt: „In so einem Fall wird selbst ein Wiederholungstäter nicht der Schule verwiesen.“ Das heißt: In manchen Fällen muss eine Lehrkraft weiter den Schüler in ihrer Klasse unterrichten, der ihr Gewalt angetan hat. „Welches Signal sendet das an andere Schüler und Lehrkräfte aus?“, fragt Nellessen. Nötig seien schärfere Sanktionen auch, weil die Täter häufig nicht nur prekären Milieus entstammten, sondern oft eine „ziemlich aktuelle Migrationsgeschichte“ hätten. „Aus ihren Herkunftsländern sind viele eine deutlich rigidere Pädagogik gewöhnt. Ein vorübergehender Ausschluss vom Unterricht für einen Faustschlag wird da überhaupt nicht als Strafe wahrgenommen“, sagt Julia Nellessen.
Gewalt gibt es selbstverständlich nicht nur an sozialen Brennpunktschulen. Das belegt der Fall von Paul Meurer. Der PhV-Referent leitet ein Gymnasium im idyllischen Kleinstädtchen Halver am Rande des Sauerlandes. „Hier herrscht noch heile Welt“, sagt Meurer schmunzelnd. „Wenn selbst hier Lehrkräfte Gewalt erleben, dann ist sie wirklich überall angekommen“. Das ist sie – seit vergangenem August. An einem Sommermorgen starteten mehrere Klassen einen Wandertag über Wald und Wiesen. Doch dann wurden Schüler von aufgescheuchten Hornissen gestochen. Meurer wurde hinzugerufen.
Vor Ort verlor der Vater eines Kindes laut Meurer die Fassung, beschimpfte andere Schüler und schließlich ihn, den Direktor: „Vor Dutzenden Schülern kam er wutentbrannt auf mich zugerannt, entgleiste verbal und schlug mich mit der Hand mehrfach auf die Brust.“ Der Schläger war laut Meurer „ein durchaus gebildeter Mensch“ (dazu passt, dass Elterngewalt laut Philologenverband an Gymnasien häufiger vorkommt als an anderen Schulformen). Meurer, ein kultivierter, sensibler Mensch, ist davon bleibend geschädigt. Immer wieder erlebt er die Szene im Traum und erwacht dann schweißnass. Doch als er Anzeige erstatten wollte, winkte der Polizist laut Meurer lachend ab. Es sei ja „nichts passiert und kein Blut geflossen“.”
Der gesamte Beitrag über Gewalttäter an Schulen ist am Montag, 6. Mai 2024, in der Welt erschienen.
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