Das Hamburger Arbeitszeitmodell: Seit mehr als 20 Jahren nicht zur Nachahmung empfohlen

Kategorien: PhV in den MedienVeröffentlicht: 11.07.2024

„Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 2019 und des Bundesarbeitsgerichts von 2022 stehen Arbeitgeber in der Pflicht, die Arbeitszeit der Beschäftigten systematisch zu erfassen. Dies gilt auch für den Arbeitsplatz Schule. Seitdem wird hierzulande mancherorts die Kritik am Deputatsmodell lauter und es wird immer häufiger auf das Lehrerarbeitszeitmodell in Hamburg verwiesen, ohne jedoch dessen Details zu kennen beziehungsweise zu beschreiben. Der nachfolgende Überblick liefert einen Einblick in das Modell.
Seit 2003 gilt in Hamburg nicht mehr das Deputatsmodell, sondern ein Lehrerarbeitszeitmodell, das den Anspruch hat, über die reine Unterrichtsverpflichtung hinaus alle weiteren Tätigkeiten von Lehrkräften zu berücksichtigen. Die Autoren des Hamburger Lehrerarbeitszeitmodells benannten die Probleme der Messung der Lehrerarbeitszeit klar:

  • Eine exakte Messung der Arbeitszeit ist für Lehrkräfte nur bei der Erteilung der Unterrichtsstunden möglich. Ein großer Teil der Arbeitszeit kann von den Lehrkräften weitgehend frei gestaltet werden und findet auch nicht in Dienstgebäuden statt, so dass sie sich einer exakten Bemessung entzieht.
  • Die messbare Unterrichtsverpflichtung löst für die Lehrkräfte in den jeweiligen Schulformen, in den Jahrgangsstufen und den einzelnen Unterrichtsfächern Zusammenhangstätigkeiten in stark divergierendem zeitlichem Umfang aus. Auch Aufgaben außerhalb des Unterrichts werden mit unterschiedlichem zeitlichem Aufwand von Lehrkräften wahrgenommen, was sich nicht adäquat in der Unterrichtsverpflichtung widerspiegelt.
  • Die Arbeitszeit der Lehrkräfte ist nicht regelmäßig über das Jahr verteilt, sondern konzentriert sich auf 38 Unterrichtswochen. In den Schulferien, die über den Urlaubsanspruch hinausgehen und somit rechtlich teilweise zur Arbeitszeit gehören, können die einzelnen Schulen und auch die einzelnen Lehrkräfte weitgehend selbst bestimmen, inwieweit überhaupt gearbeitet wird.

In Hamburg werden davon ausgehend die Tätigkeiten der Lehrkräfte in drei Bereiche aufgeteilt:

  • U-Zeiten: v.a. Unterricht, Korrekturen, Vor- und Nachbereitung, Teilnahme an Klassenkonferenzen
  • F-Zeiten: Zeiten zur Ausübung einer Funktion, z.B. als Mitglied der Schulleitung oder als Sammlungsleitung
  • A-Zeiten: Allgemeine Aufgaben, z.B. Konferenzen, Elternabende, Aufsichten, Fortbildungen

Nach Abzug aller Wochenenden und Feiertage verbleiben 221,25 Arbeitstage in 44,25 Arbeitswochen mit 40 Wochenstunden Arbeitszeit, so dass Beamtinnen und Beamte in Hamburg im Jahr insgesamt 1770 Stunden Arbeit leisten müssen. Aufgrund der Schulferien verteilen sich diese 1770 Stunden bei Lehrkräften allerdings nur auf 38 Wochen, so dass die rechnerische Wochenarbeitszeit in diesen 38 Wochen 46,578 Zeitstunden beträgt. Die Krux ist nun: Wie verteilt man alle Tätigkeiten einer Lehrkraft aus den oben genannten drei Bereichen, also die U-Zeiten, F-Zeiten und A-Zeiten auf die 46,578 Stunden Wochenarbeitszeit? Die vermeintliche Lösung ist in Hamburg die sogenannte »Faktorisierung «. Für jedes Fach und jede Klasse wird ein sog. Faktor festgelegt, mit dem die Unterrichtsstunden multipliziert werden. Eine 5. Klasse in Deutsch hat beispielsweise am Gymnasium den Faktor 1,60, wodurch man bei fünf Wochenstunden auf 8,0 Zeitstunden Aufwand kommt. Etwas höher ist der Faktor in der Oberstufe, etwas niedriger bei weniger korrekturintensiven Fächern (Geschichte in der Unterstufe beispielsweise 1,40, was bei zwei Wochenstunden 2,8 Zeitstunden entspricht). Anders gestaltet sich die Faktorisierung bei den A-Zeiten und den F-Zeiten. Hier hat der Dienstherr, ohne auf valide Studien zurückzugreifen, die benötigte Arbeitszeit der Lehrkräfte geschätzt. Bei einem in Vollzeit tätigen Kollegen kommen so beispielsweise 3,8 Zeitstunden an A-Zeiten in die Rechnung, als Fachleitung Deutsch bekommt man 0,75 Zeitstunden zusätzlich.

Die Hamburger Verordnungsgeber setzten mit der Faktorisierung das normative Maß der notwendigen Zeit für jede einzelne Tätigkeit fest. Der Geburtsfehler bei Einführung der Faktorisierung jedoch war wohl das Postulat, dass der Übergang vom Deputatsmodell zum neuen Hamburger Arbeitszeitmodell »auskömmlich« zu gestalten sei, gemeint war auskömmlich für den Finanzsenator. Kostenneutralität war das Gebot der Stunde. »Auskömmlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Kommission hat die Lehrerarbeitszeit der Hamburger Lehrkräfte so zu organisieren, dass beispielsweise im Schuljahr 2003/04 die Jahresarbeitszeit von 13700 vollbeschäftigten Lehrkräften dazu ausreicht, sämtliche im hamburgischen Schulwesen durch Lehrkräfte zu erledigenden Arbeiten auch wirklich in der zur Verfügung stehenden Zeit aufgabengerecht durchzuführen.« (Bericht der 2. Hamburger Lehrerarbeitszeitkommission 2003, S. 5).

Man erwartete also von Lehrkräften in Hamburg dieselben Tätigkeiten bei gleichen Personalkosten wie zuvor. Doch schon zuvor beim Deputatsmodell hatten die Kolleginnen und Kollegen in Hamburg Mehrarbeit geleistet. Diese ist offenbar stillschweigend im neuen Arbeitszeitmodell übernommen worden. Das Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell wurde bislang zweimal evaluiert, 2005 und 2008 dann von der sogenannten Behler-Kommission. Der erste Bericht nennt als Kritikpunkte den »Motivationsverlust bei den Lehrkräften und eine Beeinträchtigung des außerunterrichtlichen Schullebens, insbesondere die fast vollständige Einstellung von Klassenreisen (64 Prozent der befragten Schulleitungen) und von Sportveranstaltungen (42 Prozent der befragten Schulleitungen)«. Der Bericht der Behler-Kommission 2008 fügt hinzu, es müsse »ein Ausgleich für solche Unterschiede im Zeitaufwand geschaffen werden, die durch unterschiedliche Größe von Klassen/Kursen bei den Korrekturen entstehen.«

In der Tat sind unterschiedliche Größen von Lerngruppen und damit die unterschiedliche Anzahl von Schulaufgaben bis heute nicht in den Faktoren abgebildet. Bis heute gab es auch keinerlei Anpassung der Faktorisierung an veränderte Ausgangsbedingungen in Schule wie zum Beispiel die Digitalisierung und die Beschulung geflüchteter Kinder. Das führt dazu, dass der Dienstherr neue Aufgaben nicht mit Ressourcen hinterlegt.

54,4 Prozent aller Hamburger Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit, sie haben damit die höchste Teilzeitquote im Bund laut Statistischem Bundesamt. Auch wenn dieser Umstand nicht monokausal betrachtet werden darf und laut Fachleuten die Verjüngung der Lehrerschaft auch eine Rolle spielt, so ist das derzeit bestehende Hamburger Arbeitszeitmodell sicherlich ein entscheidender Faktor dafür. Lehrerverbände und Gewerkschaften haben das Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell seit seinem Beginn heftig kritisiert. Die GEW Hamburg beispielsweise, die anfangs einer Strukturreform durchaus aufgeschlossen war, ist eine der vehementesten Kritikerinnen. Der langjährige Personalrat und GEW-Funktionär Hans Voß spricht in einem Podcast zum 20-jährigen »Geburtstag« des Modells gar von einem »Geburtstag der Schande«.

Zusammengefasst lässt sich beim Blick aus Bayern nach Hamburg feststellen:

  • Das Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell hat (Stichwort »Auskömmlichkeit«) von Anfang an die Faktoren nicht realistisch angesetzt, sondern so, dass der Pflichtunterricht abgedeckt ist. Die Faktoren wurden so lange heruntergesetzt, bis das Gesamtsystem gepasst hat.
  • Eine gerechte Festsetzung der Faktoren war nicht möglich, sodass korrekturintensive Fächer nicht in einem zufriedenstellenden Maße berücksichtigt werden konnten. Der Konflikt zwischen den Fächern verlagerte sich dann ausschließlich auf die Faktorisierung und nicht auf sachliche oder pädagogische Gesichtspunkte. In Bayern würde nach dem Hamburger Modell eine Vollzeit-Lehrkraft 23 Wochenstunden D/E in unterschiedlichen Jahrgangsstufen mit der Hamburger Faktorisierung auf nicht einmal 41,5 wöchentliche Zeitstunden kommen — sie würde also jede Woche fünf (Zeit-)Stunden Minus anhäufen! Vielmehr konnte man in Hamburg argumentieren, dass eine dritte oder gar vierte Deutschklasse ja nicht so schlimm seien, weil der Faktor das ja auffange.
  • Einmal definiert kann man nur schwer zusätzliche Aufgaben (zum Beispiel im Rahmen der Digitalisierung oder der Flüchtlingsbeschulung) als zusätzliche Faktoren aufnehmen. Viele Zusatzaufgaben in Hamburg finden gar keine Berücksichtigung, müssen aber dennoch erledigt werden.
  • Durch das Lehrerarbeitszeitmodell wurde die »Vertrauensarbeitszeit« gleichsam beerdigt — der Dienstherr suggerierte, dass er nicht uneingeschränkt seinen Lehrkräften vertraut und nun alles genau zu regeln sei. Gut möglich, dass dadurch auch das Vertrauen der Lehrkräfte in den Dienstherrn Schaden genommen hat.

Betrachtet man das Hamburger Modell also genauer, so ist es kein Wunder, dass seit 20 Jahren kein weiteres Bundesland den Hamburger Weg gegangen ist, sondern der Stadtstaat sich in einer Einbahnstraße befindet, die sich als Sackgasse erwiesen hat.“

■ Carsten Hütter/Benedikt Karl. Carsten Hütter, Bezirksvorsitzender Düsseldorf im Philologenverband Nordrhein-Westfalen, hat im dortigen Mitgliedermagazin »Bildung aktuell« in der Ausgabe 01/2024 unter dem Titel »Korrekturende laut Arbeitszeitverordnung« das Hamburger Modell auf sein Bundesland angewandt und kritisch betrachtet.

Der Beitrag ist erschienen in Das Gymnasium in Bayern, der Mitgliederzeitschrift des Bayerischen Philologenverbandes (bpv).

Bitte beachten Sie, dass die Online-Version des Beitrags nur für bpv-Mitglieder einsehbar ist.