Stellungnahme des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen zum Antrag der SPD Antrag “Mehrsprachigkeit an Schulen neu denken”

Kategorien: StellungnahmeVeröffentlicht: 03.09.2024

Mehrsprachigkeit an Schulen neu denken – Bildung und mehr Chancengleichheit
für Kinder mit
internationaler Familiengeschichte!
Antrag der SPD, Drucksache 18/9158

 Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung
am 10. September 2024 

Stellungnahme des Philologenverbandes
Nordrhein-Westfalen

 

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Kuper,

vielen Dank für die Einladung zur Anhörung von Sachverständigen im Ausschuss für Schule und Bildung zum Antrag der SPD-Fraktion mit der Drucksache 18/9158 und der Möglichkeit einer differenzierten schriftlichen Stellungnahme. In diesem Zusammenhang legen wir unsere Positionen zu diesem wichtigen Thema dar.

Der Philologenverband NRW (PhV NRW) begrüßt grundsätzlich den Antrag der SPD-Fraktion. Mehrsprachigkeit erkennen wir als wertvolle Ressource an, die ein bedeutendes Potenzial für die kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft darstellt. Mehrsprachigkeit kann Schülerinnen und Schülern deutliche Vorteile beim Einstieg in das Berufsleben bieten.

Sie wirkt sich auf das sprachliche Verständnis der Schülerinnen und Schüler, und damit deren Lernmotivation, deutlich aus. Ohne Zweifel ist Mehrsprachigkeit Ausdruck gesellschaftlicher Vielfalt und kultureller Öffnung, stärkt die gesellschaftliche Teilhabe und den Zusammenhalt. Von ihrer Förderung profitieren alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig von ihrer Herkunft.

Die Förderung der Mehrsprachigkeit trägt zudem zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen bei, die in unserer globalisierten Welt unverzichtbar sind. Sie hilft, Rassismus und Vorurteile abzubauen und stärkt Empathie sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt. Darüber hinaus unterstützt die Förderung der Mehrsprachigkeit die persönliche Identität und das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler. Studien belegen, dass die Förderung der Herkunftssprache auch die Sprachkompetenzen im Deutschen und in anderen Sprachen verbessern kann, insbesondere durch die Entwicklung eines metasprachlichen Bewusstseins.

Kritische Aspekte zu den im Antrag aufgeführten Forderungen

Aus Sicht des PhV gibt es kritische Aspekte und Herausforderungen im Antrag, die berücksichtigt werden müssen. Ein zentrales Problem ist der Mangel an Ressourcen, insbesondere an qualifizierten Lehrkräften. Das Studienangebot für weitere Fremdsprachen müsste erweitert werden, und Anpassungen in der Lehrerausbildung an Universitäten sowie an den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) wären notwendig. Diese konkreten Änderungen dürfen keinesfalls zu einer Verlängerung des Studiums oder der Ausbildungszeit führen.  Gleichzeitig dürfen Änderungen in der universitären Ausbildung aus Sicht des PhV nicht zu einer qualitativen Absenkung der vertieften Fachlichkeit der Studierenden führen.

Zudem müssten zusätzliche Fortbildungsangebote für auszubildende sowie für ausgebildete Lehrkräfte geschaffen werden, um auch diese auf die Förderung der Mehrsprachigkeit angemessen vorzubereiten. Wir halten dies zumindest in der derzeitigen Versorgungs- und Besetzungssituation für nicht realistisch.

Der Herkunftssprachliche Unterricht (HSU) wird in Nordrhein-Westfalen bereits in 30 Sprachen angeboten. Das Angebot nehmen in der Primar- und Sekundarstufe etwa 105.000 Schülerinnen und Schüler in Anspruch. NRW ist dabei Vorreiter im Vergleich zu anderen Bundesländern. Aus Sicht des PhV müssten diese bereits bestehenden Angebote stärker beworben und die Informationen in verschiedenen Sprachen zugänglich gemacht werden. Damit könnte auch außerschulisch ein wesentlicher Beitrag zur Verbreitung und Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeit geleistet werden.

Die Ausweitung des Programms KOALA (Koordiniertes mehrsprachliches Lernen) auf andere Kommunen und Schulen ist ebenfalls eine Herausforderung, da es sich hauptsächlich um ein Programm für die Primarstufe handelt. Versetzungsrelevante Wahlpflichtfächer in der Sekundarstufe I sowie abitur- und fachabiturrelevante Fächer in häufig gesprochenen Herkunftssprachen erfordern entsprechende Lehrpläne und ausgebildete Lehrkräfte. Eine Überführung des Programms KOALA von der Primar- in die Sekundarstufe der Gymnasien und Gesamtschulen halten wir im Sinne der Einhaltung der Anforderungen, die sich aus der APO-S1 und der APO-GOSt ergeben, für hochproblematisch. Eine dauerhafte Kontinuität der Angebote im Wahlpflichtbereich, aber auch die daraus resultierende Versetzungsrelevanz des HSU, halten wir für unrealistisch und unpraktikabel.

Der Ausbau von bilingualen Schulstandorten und bilingualem Unterricht ist ebenfalls nicht ohne weiteres möglich, da es an Lehrplänen und qualifizierten Lehrkräften fehlt. Gleichzeitig beobachten wir in den Schulen ein stark schwankendes und schwer vorherzusehendes Belegverhalten der Schülerinnen und Schüler in bilingual angebotenen Fächern. Die Tendenz ist bei nicht wenigen Fächern gar rückläufig. In Englisch ist die Varianz aufgrund der großen Zahlen immerhin nach planbar. Unserer Meinung nach kann es sich daher nicht um ein grundsätzlich breit aufgestelltes und flächendeckendes, sondern nur um ein standortbezogenes Angebot, an die Schülerinnen und Schüler handeln.

Anzahl der Schulen mit bilingualem Unterricht (Quelle: Amtliche Schuldaten)
21/22 22/23 23/24
Sprache Schulen SuS Schulen SuS Schulen SuS
Englisch 414 64.428 424 62.151 416 66.552
Französisch 31 3.630 26 2.987 25 2.875
Italienisch 15 1.186 8 1.014 8 814
Niederländisch 8 987 9 1.737 9 848
Spanisch 12 1.278 11 1.746 8 1.068
Türkisch 6 388 4 327 2 194
Neugriechisch 9 417 8 591 5 516
Summe 495 72.314 490 70.553 473 72.867

Ein weiteres Problem stellt die Umsetzung individueller Nachteilsausgleiche bei Abschlussprüfungen dar. Die Vergleichbarkeit der Prüfungsergebnisse könnte dadurch beeinträchtigt werden, was die Aussagekraft der Prüfungen infrage stellt.

Zusammenfassend erkennt der Philologenverband NRW die vielfältigen Potenziale der Mehrsprachigkeit und die Notwendigkeit ihrer Förderung grundsätzlich an. Die Förderung von Mehrsprachigkeit stärkt gleichzeitig die Förderung von Deutsch als Bildungssprache und damit auch den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schülern. Der ganzheitliche Ansatz und eine stärkere Verzahnung von Regelunterricht und Herkunftssprachlichem Unterricht sind zu begrüßen, sollte aber nicht durch verpflichtende Module gekennzeichnet sein. Vor allem aber muss klar sein, dass zumindest derzeit die notwendigen Ressourcen für eine konkrete Umsetzung fehlen.

Der Antrag unterscheidet zudem zu wenig zwischen dem freiwilligen staatlichen Angebot des herkunftssprachlichen Unterrichts und einem regelhaften mehrsprachigen Angebot im Regelunterricht, das ganz andere Voraussetzungen erfordert. Eine individuelle Bedarfsanalyse jeder Schule und Kommune ist notwendig, da die Bedarfe in NRW stark variieren. Die im Antrag aufgeführten Forderungen betrachten wir als zu pauschal gedacht und auf die aktuelle Lehrerversorgungssituation als in die Realität nicht übertragbar.

Düsseldorf, den 02.09.2024

gez. Sabine Mistler
– Vorsitzende –