„Wir brauchen den richtigen Fokus“ – Philologen-Chefin Mistler über Schlussfolgerungen aus der IQB-Studie
Die IQB-Studie verursacht nach wie vor viel Wirbel. Kein Wunder: Die Leistungen der Viertklässler in Deutschland sind in allen relevanten Bereichen zurückgegangen. Seitdem steht die Arbeit der Grundschulen im Fokus. Scharfe Kritik kam aus Reihen des Philologenverbands („unbrauchbare Methoden“). Über das Verhältnis der gymnasialen Lehrerschaft zu den Kolleginnen und Kollegen der Primarstufe, über To-Dos der Bildungspolitik und den Lehrermangel sprachen wir mit der Vorsitzenden des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen, Sabine Mistler. Sie ist auf der edu:regio am 10. und 11. Februar in Düsseldorf zu erleben.
News4teachers: NRW-Schulministerin Dorothee Feller hat im Zusammenhang mit den schlechten Ergebnissen der IQB-Studie angekündigt, den Grundschullehrkräften „mehr Begleitung“ angedeihen zu lassen. Zuvor hatte der Philologenverband Rheinland-Pfalz die Bildungspolitik aufgefordert, falsche Methoden an Grundschulen zu stoppen. Sind also die Grundschullehrkräfte an den schlechteren Schülerleistungen schuld?
Mistler: Ich gehe davon aus, dass alle Grundschulen tun, was sie können. Aus meiner Sicht kann man den Kolleginnen und Kollegen dort überhaupt keinen Vorwurf machen. Man kann vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch über Methoden nachdenken, aber uns als Philologenverband in NRW fehlt dafür die Detailexpertise, weil wir für Lehrerinnen und Lehrer der Gymnasien und Gesamtschulen sprechen.
Wir stellen allerdings fest: Wenn wir die Schülerinnen und Schüler mit der fünften Klasse in unser System übernehmen, dann ist ein zunehmend größerer Einsatz der Kollegen und Kolleginnen notwendig, um aufzuholen und auszugleichen, was in den Grundschulen nicht vermittelt wurde – und das betrifft auch die Schlüsselkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Je schwieriger die Situation der einzelnen Schülerinnen und Schüler ist, je nachdem sicher auch, wie viel Unterrichtsausfall in der Grundschule herrschte, desto schwieriger wird es für uns, die Defizite aufzuholen. Wenn man sich mal vor Augen hält, dass wir es in der Regel mit den Schülerinnen und Schüler zu tun bekommen, die zumindest eine eingeschränkte Gymnasialeignung haben, und wenn schon diese eigentlich leistungsstarken Kinder Probleme haben, dann kann man sich leicht vorstellen, wie das in den anderen Schulformen aussieht. Deswegen denke ich schon, dass es sehr, sehr wichtig ist, jetzt den Hebel anzusetzen. Klar ist: Wir benötigen eine starke Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Grundschulen – mehr Personal. Dazu gehören auch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, dazu gehören ebenfalls die sogenannten Alltagshelferinnen und Alltagshelfer, die die Politik jetzt in die Schulen bringen will. Wir brauchen aber auch den richtigen Fokus. Ein persönliches Beispiel: Ich bin selbst Englischlehrerin und habe festgestellt, dass die Fähigkeiten im Fach Englisch zum Ende der vierten Klasse stark nachgelassen haben, obwohl doch der Start des Englisch-Unterrichts von der dritten auf die erste Klasse vorverlegt worden war. Das haben mir auch Kolleginnen und Kollegen bestätigt. Offensichtlich ist es so, dass durch das frühe Grundschul-Englisch die Neugierde und die Motivation beim Wechsel an die weiterführende Schule nachgelassen haben – heißt: Weniger wäre hier mehr.
Wenn wir nun feststellen, es gibt gravierende Defizite im Lesen, Schreiben und Rechnen, zu uns kommen noch mehr Flüchtlingskinder, die Grundschulen stehen vor der großen Herausforderung einer Komplett-Inklusion – dann ist es einfach notwendig, Prioritäten zu setzen beziehungsweise zu überdenken
News4teachers: Also gibt es kein Methodenproblem in der Grundschule, wie die Diskussion um „Lesen durch Schreiben“ suggeriert?
Mistler: Als Mutter kann ich sagen, dass ich mich an die Wochenpläne erinnere, die unsere Tochter früher aus der Grundschule mit nach Hause gebracht hat – und die womöglich für einige Kinder eine Überforderung waren. Ich meine schon, dass aufgrund der zunehmenden Heterogenität und der großen Herausforderungen, vor denen die Grundschulen stehen, die Kolleginnen und Kollegen dort nochmal kritisch auf ihre Methoden schauen sollten. Um das vollständig beurteilen zu können, müssen aber die Expertinnen und Experten aus dem Grundschulbereich hinzugezogen werden – und das sind natürlich die Lehrkräfte dort, sie sind nun mal die Fachleute.
News4teachers: Auch in Sachen A13 machen sich die Philologen bei den Grundschullehrkräften nicht beliebt – immer wieder, zuletzt auch Hessen, kommt aus Reihen des Verbands die Forderung, Gymnasiallehrkräfte finanziell besser zu stellen als Grundschullehrkräfte. Wie stehen Sie dazu; auch in NRW steht ja die schrittweise Angleichung bevor?
Mistler: Ich denke, dass die Probleme der Grundschulen nicht allein durch A13 gelöst werden. Wir als Philologenverband in Nordrhein-Westfalen haben uns aber nicht gegen A13 für die Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen und an den Sek-I-Schulen ausgesprochen. Deren Aufgaben – und das haben wir immer vertreten – sind auch sehr herausfordernd. Dementsprechend müssen Lehrkräfte an diesen Schulen entlohnt werden.
Für uns ist es allerdings wichtig, dass die Laufbahngruppen beibehalten werden – die Sek-I-Lehrkräfte und Grundschul-Lehrkräfte gehören zur Laufbahngruppe 2.1, die Gymnasial- und Gesamtschullehrer zur Laufbahngruppe 2.2. Das ist ein vermeintlich marginaler Unterschied. Der ist aber auch gerechtfertigt. Wir sind durch die Abiturvorbereitung in den Oberstufen und die sehr, sehr arbeitsaufwändigen Korrekturen von Klausuren und Klassenarbeiten stark belastet. Wir haben also eigentlich kaum Ferien, bis auf die Sommerferien, weil halt durchkorrigiert wird. Deswegen gehört zu unseren Hauptforderungen die, ein Beförderungssystem zu erhalten, das unsere Kollegen und Kolleginnen entsprechend ihren Aufgaben und der vielfältigen Aufgaben auch entlohnt. Und dass sie bei vielen sehr zeitaufwendigen Korrekturen vor allem in der Oberstufe angemessen entlastet werden.
News4teachers: Wo drückt darüber hinaus der Schuh?
Mistler: Wir brauchen nicht-pädagogisches Personal insbesondere für den IT-Support, das ist auch gerade bei den großen Systemen enorm wichtig, und wir brauchen grundsätzlich einfach mehr Zeit für Unterricht und pädagogische Aufgaben, und die ist in den letzten Jahren immer mehr verloren gegangen. Es geht ja darum, dass wir unsere Schüler und Schülerinnen studierfähig machen müssen, schon um den akademischen Nachwuchs für NRW und Deutschland sicherzustellen.
News4teachers: Der Lehrkräftemangel, so KMK-Präsidentin Busse, wird wohl noch zehn Jahre andauern – mindestens. Nicht nur die Schulen würden Fachkräfte benötigen und um die Abiturienten werben. Wie lässt sich, auch nach den Erfahrungen aus der Corona-Krise, jungen Menschen der Beruf einer Lehrkraft schmackhaft machen?
Mistler: Ganz einfach: Arbeitsbedingungen verbessern, Arbeitsbedingungen verbessern, Arbeitsbedingungen verbessern! Wir müssen uns tatsächlich wieder auf das Lehren konzentrieren können. Unsere Tochter studiert jetzt aufs Lehramt. Sie ist nicht abgeschreckt durch ihre Eltern, die beide Lehrer sind. Ihre Motivation, den Beruf zu ergreifen, lautet: Sie möchte das Lehren und Lernen in den Mittelpunkt ihres Berufslebens stellen.
Wenn junge Menschen dann aber mit dem Studium beginnen, bekommen sie schnell mit, dass die Belastung sehr groß ist, weil es eben immer weniger um das Lehren und Lernen geht – stattdessen um viele Dinge drumherum. Wir sind der Meinung, dass die Attraktivität des Berufs nicht allein durch eine bessere Besoldung verbessert werden kann, weil viele Lehrerinnen und Lehrer, die ich kenne – mich eingeschlossen – nicht in erster Linie monetär motiviert waren und sind. Wir benötigen junge Menschen, die mit dem Herzen bei der Sache sind, die gern Wissen vermitteln wollen, die sich mit jungen Menschen auseinandersetzen möchten, die Werte vermitteln wollen – die also aus Überzeugung Lehrerin oder Lehrer werden wollen. Stundenreduzierung, Aufstiegschancen, Entlastung von nicht-pädagogischen Tätigkeiten – das sind wichtige Punkte, die Korrekturbelastungen senken auch. Bei unseren Schulformen geht es konkret um die Notwendigkeit einer ganz deutliche Erhöhung der Anrechnungsstunden, um Entlastungen schaffen zu können.
Und ich glaube auch, das Standing von Lehrerinnen und Lehrern in der Gesellschaft ist einfach wichtig. Zu Beginn der Corona-Krise hatte man das Gefühl, Mensch, Lehrerinnen und Lehrer erfahren jetzt wieder mehr gesellschaftliche Achtung. Letztlich stellte sich aber heraus, dass es vielen Eltern sowie Politikerinnen und Politikern mehr um Betreuung als um Bildung ging. Mein Plazet: Wir benötigen eine neue Wertschätzung von Bildung.
Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Gespräch.
Das Interview ist am Sonntag, 29. Januar 2023, bei News4Teachers erschienen.