Sabine Mistler: „Der Lehrkräfteberuf ist unattraktiver geworden“
Frau Mistler, was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Baustellen in den Schulen NRWs?
SABINE MISTLER: Das Schuljahr endete mit den Downloadproblemen beim Abitur und der Datenpanne bei der Serviceagentur Qua-Lis für Gymnasien und Gesamtschulen turbulent. Zudem war der extrem kurze Abiturzeitraum enorm herausfordernd. Es wäre deshalb zu wünschen, wenn es ruhiger würde. Die Baustellen werden die altbekannten sein. Viele Schulen benötigen dringend Personal, vor allem gut ausgebildete und motivierte Lehrkräfte; derzeit fehlen in NRW rund 6700. Aber auch nichtpädagogische Mitarbeitende wie Schulsozialarbeiterinnen oder IT-Experten zur Unterstützung des Lehrpersonals. Die Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen, vor allem aus der Ukraine, wird für viele Kommunen und Schulen weiter herausfordernd. Natürlich beschäftigt uns auch die Daueraufgabe Digitalisierung. Da ist im vorigen Jahr mit textgenerierenden Sprachmodellen wie ChatGPT und anderen KI-Systemen ein riesiges Thema hinzugekommen. Wir beobachten bei den Lehrkräften neben einer gesunden Portion Skepsis auch eine sehr große Aufgeschlossenheit dem Thema gegenüber. Dennoch muss das Lehren und Lernen sehr intensiv begleitet werden.
Viele sprechen von einer echten Bildungskrise. NRW versucht dem Lehrermangel mit einem Maßnahmenpaket zu begegnen. Was halten Sie von den Maßnahmen?
MISTLER: Das Schulministerium hat im vorigen Dezember ein Handlungskonzept Unterrichtsversorgung vorgestellt. Dass die Landesregierung mehr Plätze für Studienanfänger schaffen will, ist zwar gut und richtig, löst aber kurzfristig keine Besetzungsprobleme. Das schafft auf kurze Sicht auch keine angekündigte Werbekampagne für den Lehrkräfteberuf. Das Thema ist ein Marathon und kein Sprint. Und im Moment gibt es mehr freie Plätze als es qualifizierte Bewerber gibt. Da hilft es vor allem an Gymnasien und Gesamtschulen nur bedingt, kurzfristig Löcher mit Seiteneinsteigern zu stopfen. Diese müssen erst berufsbegleitend und ohne Abstriche bei Dauer und Inhalten qualifiziert werden. Gleiches gilt für Lehrpersonen mit ausländischen Abschlüssen. Für besonders problematisch halten wir aber einige dienstrechtliche Schritte. So wird Lehrkräften, die keine familiären Gründe anführen können, etwa Kinder unter 18 Jahren oder zu versorgende Angehörige, vermehrt der Teilzeitwunsch verwehrt. Das ist kontraproduktiv und könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass der Lehrkräftemangel noch größer wird. Viele entscheiden sich ja nicht für Teilzeit, weil sie keine Lust haben, sondern weil sie häufig an der Grenze ihrer Belastbarkeit arbeiten.
MISTLER: Zumindest lässt sich sagen, dass es in den vergangenen 20 Jahren noch keiner NRW-Landesregierung gelungen ist, den Lehrkräftebedarf nachhaltig zu regeln. Mal gibt es zu wenig Lehrkräfte, mal zu viele. Es hat wenig mit vorausschauender Planung zu tun, solche absehbaren Zyklen zu ignorieren. Studienplätze fürs Lehramt abzubauen, weil es gerade genug Lehrkräfte gibt oder die Kassen leer sind, ist nicht sehr klug. Es ist ja nicht so, dass die Situation in anderen Bundesländern viel besser wäre. Deshalb macht man es sich zu einfach, immer nur auf die Politik zu schimpfen. Die Wertschätzung hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen, wir haben rückläufige Zahlen bei Studierenden, der Lehrkräfteberuf ist unattraktiver geworden. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Wird in NRW immer noch zu wenig Geld ausgegeben pro Schülerin und Schüler oder ist nicht Geld das Problem, sondern die Umsetzung dessen in ein funktionierendes System?
MISTLER: Die Schulstruktur und Unterrichtsangebote in den einzelnen Bundesländern unterscheiden sich wie das Schüler-Lehrkräfte-Verhältnis, Klassengrößen und die Besoldungsstruktur, deshalb sind solche Vergleiche schwierig. Dass die Stadtstaaten Berlin und Hamburg zum Beispiel mehr Geld ausgeben als Flächenländer wie NRW oder Bayern sagt zunächst einmal nichts über den Bildungsstand oder die Güte der schulischen Ausbildung. Viel entscheidender ist doch, wie das Geld eingesetzt wird. Grundsätzlich aber muss der Fokus auf die Bildung gelegt werden.
Wo stehen die NRW-Schulen in Sachen Digitalisierung?
MISTLER: Die Ausstattung mit Endgeräten gestaltet sich nach wie vor sehr unterschiedlich im Land. In jedem Fall sind wir schon sehr viel weiter als noch vor vier Jahren, hier war die Coronapandemie ein entscheidender Antreiber. Doch leider ist vieles zu schnell und undurchdacht auf den Weg gebracht worden, und es geht nun auch um Fragen der dauerhaften Finanzierung von Geräten. Wir wünschen uns sehr, dass der Digitalpakt, wie von der Berliner Ampel und im Koalitionsvertrag angekündigt, tatsächlich 2024 verlängert wird. Im Moment streiten Bund und Länder noch um den Digitalpakt 2.0 ab 2025. Das kann und darf nicht sein. Es wäre absolut inakzeptabel, wenn wir wieder Rückschritte machen müssten. Hier müssen auch die Kommunen gestärkt werden.
Das Interview zum Lehrkräfteberuf ist am Freitag, 4. August 2023, in der Westdeutschen Zeitung erschienen.
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