„Das Problem ist die Tabuisierung“
Die Tabuisierung ist das Problem: “In einem Offenburger Klassenzimmer erschoss ein Jugendlicher seinen 15-jährigen Mitschüler, in Hamburg bedrohten elf- bis 14-jährige Schüler ihre Lehrerin mit einer Spielzeugpistole und erst vor Kurzem veröffentlichten Siebtklässler der Sekundarschule am Wiehen in Minden ein Video, das zeigt, wie sie auf einen Jugendlichen eindroschen. Gewalt unter Jugendlichen: ein Thema, das auch an den Lehrerinnen und Lehrern in Minden-Lübbecke nicht spurlos vorbei geht. „Bereits jede zweite Lehrkraft hat Erfahrungen mit Gewalt gemacht“, sagt die Vorsitzende des Philologenverbands NRW (PhV), Sabine Mistler. Sie war am Montagabend aus Düsseldorf angereist, um mit den Lehrerinnen und Lehrern der Gymnasien, Gesamtschulen und Weiterbildungskollegs vor Ort zu sprechen – unter anderem über die neue Studie des Verbands zu Gewalt gegen Lehrkräfte in NRW. Bedrohungen, körperliche oder verbale Attacken, heimlich gefilmte Videos in den Klassenräumen oder auch Mobbing in den Sozialen Medien – das sind nur einige Aktionen, von denen die an der Studie teilgenommenen Lehrkräfte berichten.
Rund 1.500 Lehrende haben sich an der Umfrage beteiligt, darunter auch viele aus dem Kreis Minden- Lübbecke. „Diese Studie zeigt, dass das Thema nicht nur in Schulen in sogenannten Brennpunkten präsent ist, sondern auch an Gymnasien und Gesamtschulen“, sagt die PhV-Vorsitzende. „Uns haben die Zahlen und Schilderungen schockiert. Sie zeigen deutlich, dass dringend etwas passieren muss.“ So haben 42 Prozent der befragten Gesamtschullehrer angegeben, dass sie häufig bis sehr häufig Gewalt erfahren würden. Die Gymnasiallehrer hingegen machten das Kreuz zum größten Teil bei „eher selten“.
Im ländlichen Gebiet würden die Vorfälle weniger als in Großstädten auftreten. Die Art der Übergriffe unterscheidet sich ebenso je nach Schulform. Während an Gymnasien Beleidigungen, Beschimpfungen und Online- oder Cyberdelikte an erster Stelle genannt werden, gehe es an Gesamtschulen robuster zur Sache. Dort folgen Körperverletzungen auf Beleidigungen und Bedrohungen – bis hin zu handfesten Morddrohungen gegen Angehörige, Falschbeschuldigungen und Verleumdungen. „Das Problem bei der Gewalt gegen Lehrkräfte ist die Tabuisierung“, sagt Mistler.
Viele Kollegen hätten das Gefühl, das Problem erst einmal bei sich selbst suchen zu müssen. Zudem könnte jegliches Durchgreifen gegen Schüler dem Ruf der Schule schaden. „Diese Ängste sind bei den Lehrkräften präsent. Die darf man nicht leugnen“, so die Vorsitzende. Je nachdem, wie die Schule dann reagiert, werfe das Fragen bei den Eltern auf, wie zum Beispiel „Ist die Schule nicht durchgreifend genug?“ oder „Ist diese Schule nicht sicher?“ Dennoch sei es wichtig, das Thema möglichst nicht zu tabuisieren. Übergriffe würden dokumentiert und festgehalten, aber die Maßnahmen verliefen zumeist im Sande. „Oder es sind Lehrer, die sich mit ihrer Ansicht nicht outen.“
Aus der Umfrage ergebe sich ebenfalls, dass es nicht immer nur die Schüler sind, die als Gewalttäter dargestellt werden, sondern auch zum Teil Eltern, die Lehrkräfte unter Druck setzen. Laut Umfrage würden Elterngespräche häufig bereits im Vorfeld für Unbehagen bei den Lehrkräften sorgen. Die Unterstützung seitens des Kollegiums oder der Schulleitung werde häufig vermisst. In der Umfrage wurde auch gefragt, welche Art der Unterstützung gewünscht sei. Die Antworten gingen von Einlasskontrollen über Videokameras bis hin zu der Einrichtung eines Sicherheitsdienstes. Ebenso wünschten sich viele mehr Rückhalt von der Schulleitung, wenn es mal brenzlig werden sollte. Deshalb müsste es einen Ansprechpartner außerhalb der Schule, auf außerschulischer Ebene, geben, der da tatsächlich auch etwas machen könne. „Was wir uns wünschen ist, dass es in jeder Bezirksregierung einen Ansprechpartner alleinig für diesen Themenkomplex geben sollte“, sagt Mistler. Es gebe zwar bereits Personen, in deren Teilbereich das Thema fallen würde, aber das reiche nicht. Die Person sollte juristische Kenntnisse besitzen und sich mit dem Problemfeld auskennen. „Damit die Kollegen auch tatsächlich die Möglichkeit haben, Unterstützung zu finden.“
Der gesamte Beitrag “Das Problem ist die Tabuisierung” ist am Donnerstag, 15. November 2023, im Mindener Tageblatt erschienen.
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