„Die Zahlen sind alarmierend“
„Erst vor wenigen Tagen haben in Hamburg zwei Schüler eine Lehrerin mit einer Schusswaffe bedroht. Erst nach vier Stunden konnten die Einsatzkräfte, die im Rahmen eines Großeinsatzes der Polizei vor Ort waren, Entwarnung geben: Es handelte sich um eine Pistolen-Attrappe. Erst vor ein paar Monaten sorgte ein Fall in Ibbenbüren in Nordrhein-Westfalen für Entsetzen, als ein 17-jähriger Schüler eines Berufskollegs seine 55-jährige Lehrerin im Klassenraum erstochen hat.
Solche Extreme sind freilich Einzelfälle. Aber beim Philologenverband NRW hatte man den Eindruck, dass es sich um die Spitze eines Eisbergs handelt und das Thema Gewalt gegen Lehrkräfte in allen Facetten „größer ist, als das in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird“, sagt Sabine Mistler, Vorsitzende des NRW-Landesverbandes, gegenüber dem Stadt-Anzeiger zur Gewalt und Bedrohungen gegen Lehrkräfte.
Da größer angelegte Studien zum Thema Gewalt gegen Lehrkräfte bislang fehlen, startete der Verband eine aktuelle Umfrage bei Lehrkräften an NRW-Gesamtschulen und Gymnasien. Sie ergab, dass mehr als jede zweite Lehrerin oder Lehrer in den vergangenen drei Jahren bereits persönlich von Gewalt betroffen war.
An den Gymnasien waren es 47 Prozent, an den Gesamtschulen mit 76 Prozent sogar mehr als Dreiviertel der Lehrkräfte. 1500 Lehrkräfte aus NRW hatten sich an der von Mitte September bis Mitte Oktober dauernden Erhebung beteiligt. Mit knapp einem Drittel unterrichtete der größte Anteil von ihnen im Regierungsbezirk Köln.
„Die Zahlen, die bei der Umfrage ans Licht gekommen sind, sind alarmierend. Das zeigt, dass etwas passieren muss“, konstatiert Mistler. Dabei fand sie neben den Zahlen besonders die einzelnen von den Lehrkräften geschilderten Erfahrungen schockierend. Ein Lehrer berichtete, wie ihm bei der Pausenaufsicht eine Getränkeflasche an den Hinterkopf flog. Zahlreiche Lehrkräfte gaben an, dass sie regelmäßig heimlich gefilmt und in den sozialen Medien verspottet wurden. Selbst Morddrohungen gegenüber Angehörigen von Lehrkräften waren dabei. „Ein Schulleiter schilderte uns, dass er bei einer Schulveranstaltung von einem Vater auf der Bühne erst verbal und dann tätlich angegriffen wurde“, sagt Mistler. Er habe danach tagelang nicht zur Schule gehen können.
Laut der Umfrage reichten die Formen der Gewalt von körperlichen Übergriffen über Bedrohungen, Beschimpfung, sexualisierte Gewalt bis zu Cybermobbing, Online-Übergriffen oder Verleumdungen. Dabei zeigten sich Unterschiede in der Häufigkeit der Vorfälle: An den Gesamtschulen geben 80 Prozent der Befragten an, es gebe häufig (50,7 Prozent) oder sehr häufig (18 Prozent) Vorfälle an ihrer Schule. An den Gymnasien berichteten 27,6 Prozent der Befragten von häufigen, sechs Prozent von sehr häufigen Vorfällen.
Auch die Art der Übergriffe war je nach Schulform etwas anders: An den Gymnasien wurden Beleidigungen, Beschimpfungen und Onlinedelikte an erster Stelle genannt. An den Gesamtschulen gab es weniger Vergehen im digitalen Raum, dort folgten auf Beleidigungen und Bedrohungen Körperverletzungsdelikte. Aber ganz gleicher welche Art von Übergriffen: Häufig lösten diese bei Lehrerinnen und Lehrern Ängste aus und beeinflusse die Art, wie sie vor die Klasse treten, so Mistler.
Problematisch sind neben der Gewalt durch Schüler laut der Umfrage zunehmend auch Formen der Gewalt und Bedrohungen durch Eltern: Dies betreffe vor allem Lehrkräfte an Gymnasien, die häufig unter Druck gesetzt würden, erläutert Mistler. Vor allem am Ende der Erprobungsstufe, wenn es darum gehe, ob das Kind auf dem Gymnasium bleibe, würden Lehrkräfte mit Drohungen teilweise massiv unter Druck gesetzt, Widersprüche gegen Noten eingereicht und Rechtsanwälte eingeschaltet.
Laut dem Philologenverband wird das Problem der Gewalt vielerorts an den Schulen tabuisiert. Manche Lehrer trauten sich nicht, sich in der Schule mit ihren Erfahrungen zu outen. Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) sieht hier ein wesentliches Problem. Es schwebe oft ein „Deckmantel des Schweigens“ über dem Thema, kritisierte der VBE-Bundesvorsitzende Gerhard Brand.
Schulleitungen, die sich dem Problem stellten, hätten oftmals mit einem Reputationsverlust zu kämpfen, da der Eindruck entsteht, es käme nur dort zu Gewalt, sagte Brand. Dabei sei es ein „generelles Problem“. Professor Andreas Zick, Leiter Institut für Gewalt- und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld, sieht das ähnlich: Dass Gewalt wegen eines möglichen Imageschadens für die Schule nicht benannt werde, sei zwar nachvollziehbar, aber ein Teil des Problems, sagte Zick in einem Interview im ZDF.
Gewaltforscher Zick sieht in Gewalttendenzen aus dem sozialen Umfeld der Schüler einen Grund für die wachsende Aggressivität. Hassbilder und Vorurteile würden in den sozialen Medien geteilt oder im Elternhaus werde ein missachtendes und respektloses Bild auf das Lehrpersonal aufgebaut. „Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren im Umgang mit Autoritäten verändert“, ergänzt Mistler. Das sehe man auch im Umgang mit anderen Autoritäten wie der Polizei.
Der Schulleiter einer Kölner Gesamtschule konnte auf Nachfrage für seine Schule keine Fälle von körperlicher Gewalt bestätigen. Es beobachte aber, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler vor allem untereinander schneller aggressiv reagiere. „Die inneren Zündschnüre sind bei manchen kürzer geworden“, sagt er.
Das größte Problem im Verhältnis der Schüler zu den Lehrerinnen und Lehrern sieht er allerdings eher in der zunehmenden Form von indirekter Gewalt: Zum Beispiel, wenn den Anweisungen der Lehrkraft nicht mehr nachgekommen werde und der Unterricht durch Respektlosigkeit boykottiert werde. Das sei eine Ohnmachtserfahrung, die viele auch als indirekte Gewalt erfahren.
Was lässt sich also aus der Umfrage ableiten? „Wichtig ist, dass die bestehenden Probleme nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Auch nicht in den Kollegien“, sagt Mistler. Der Philologenverband NRW fordert, dass es in jeder Bezirksregierung Ansprechpartner für diesen Themenkomplex installiert wird.
Gewaltforscher Zick fordert mehr Anti-Aggressions-Trainings an den Schulen und mehr Weiterbildung für Lehrkräfte, damit diese besser deeskalieren könnten. Die betroffenen Lehrkräfte selbst wünschten sich in der Umfrage dringend mehr Schulsozialarbeiter und Schulsozialpädagogen. Die erwähnte Kölner Gesamtschule hat derzeit 1,5 Stellen für Sozialpädagogen – bei 1600 Schülerinnen und Schülern.“
Der gesamte Beitrag über Bedrohungen gegen Lehrkräfte ist am Montag, 20. November 2023, im Kölner Stadt Anzeiger erschienen.
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