Positionspapier zur “Lern- und Prüfungskultur”
Positionspapier des PhV NRW
Lern- und Prüfungskultur:
Veränderungen im Kontext des digitalen Wandels und Herausforderungen für die gymnasiale Bildung
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Vorwort
Durch die zunehmende Nutzung digitaler Medien und digitaler Werkzeuge sowie durch die Einbindung des Medienkompetenzrahmens NRW in die Kernlehrpläne ergeben sich Veränderungen in der Lern- und Aufgabenkultur. Vermeintlich neue Kompetenzen, wie die so genannten „4Ks“ (Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken und Kommunikation), werden hinzugenommen, um den Herausforderungen der digitalen Welt gewachsen zu sein. Daraus ergeben sich auch neue Anforderungen an die Leistungsbewertung. Neue, digitale Prüfungsformate sollen der veränderten Lern- und Aufgabenkultur Rechnung tragen. Das sich zurzeit entwickelnde Spektrum reicht von digitalen Lernaufgaben als Leistungsnachweise bis hin zu Open-Media-Klausuren.
Zur Entwicklung einer neuen Prüfungskultur ist es wichtig, dass auch das Land NRW eine ergebnisoffene wissenschaftliche Begleitung und Erprobung neuer Prüfungsformate vornimmt, wie es vorbildlich im Land Bayern im Schulversuch „Prüfungskultur innovativ“ geschieht. In diesem Zusammenhang ist auch eine konzeptionelle Rahmengebung für die „4Ks“ notwendig. Es gibt bisher kaum Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum dazu. Eine Einordnung findet sich z.B. bei Charles Fadel, Maya Bialik und Bernie Trilling: Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen (2017). Die Autoren betonen, dass sie zwischen den Dimensionen Wissen und Skills (4Ks) keine Dichotomie sehen, sondern im Gegenteil beide Dimensionen gemeinsam gedacht werden müssten. Dadurch solle insbesondere die Transferleistung verbessert werden: »Alle Skills sollten durch und mit dem Lernen von Wissensinhalten erworben werden« (S. 128).
Aus Sicht des PhV NRW ist es notwendig, dass sich die Veränderungen in der Lern-, Aufgaben- und Prüfungskultur an einem gymnasialen Bildungsbegriff orientieren und klaren Kriterien unterworfen sind, anhand derer die Entwicklungen bewertet werden können. Für die Prüfungsformate rufen wir die bekannten Kriterien für die Leistungsbewertung in Erinnerung und erweitern diese in Hinblick auf die neuen Herausforderungen. Aus diesen Kriterien ergeben sich bildungspolitische Forderungen.
Wir beziehen mit diesem Papier Position vor dem Hintergrund der aktuellen Veröffentlichungen der KMK (Lehren und Lernen in der digitalen Welt) und des MSB NRW (Impulspapier II). In diesen Veröffentlichungen finden sich Setzungen zur „digitalen Welt“, zur Gestaltung des Unterrichts und zur Rolle der Lehrkraft, welche die pädagogische Freiheit und Verantwortung der Lehrkraft (vgl. § 5 ADO), in einem gewissen Spielraum begründet eigene pädagogische und (fach-)didaktische Entscheidungen zu treffen, immer weiter einschränken. Wir fordern daher eine offene und empirisch/wissenschaftlich fundierte Diskussion über ein ausgewogenes Verhältnis von analogen und digitalen Lehr-/Lernsettings an den Schulen, in der bildungspolitischen Aspekten wieder ein Vorrang vor rein technischen und ökonomischen Aspekten eingeräumt wird.
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Weiterentwicklung der Lern- und Aufgabenkultur
Im KMK-Papier „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ vom 9. Dezember 2021 werden fachliche Kompetenzen den neuen übergreifenden Kompetenzen der digitalen Welt gegenübergestellt. Dort heißt es (S. 8):
„Die Balance zwischen fachlichen und übergreifenden Bildungszielen ist dementsprechend in den curricularen Anforderungen der Länder gegebenenfalls neu auszutarieren.“
Aus Sicht des PhV NRW bleiben die fachlichen Kompetenzen mit konkreten inhaltlichen Schwerpunkten die Basis gymnasialer Bildung und dürfen nicht in Konkurrenz gesetzt werden zu digitalisierungsbezogenen und informatischen Kompetenzen.
Die Veränderungen in der Lernkultur, die sich zurzeit vollziehen oder gefordert werden, sind vielfältig. Es findet eine starke Orientierung an der Lebens- und Arbeitswelt der Lernenden statt, die sehr auf Kooperation und Kommunikation setzt (z.B. in „agilen Arbeitsweisen“) und auf selbstgesteuerte Lernprozesse mit entsprechender Feedbackkultur (vgl. KMK S. 11). Aus Sicht des PhV NRW ist es notwendig, die unterschiedlichen Zielsetzungen und Rahmenbedingungen zwischen Arbeitsprozessen in der Wirtschaft und dem Lernen in der Schule zu beachten. Das Gymnasium ist primär der Bildung, nicht der Ausbildung verpflichtet, die ihrerseits mit Recht die Arbeitswelt privilegiert. Dieser Schwerpunkt ist eher den berufsbildenden Schulen zugehörig.
Digitale Lernprozesse und Lernprodukte sind zudem sehr komplex und aufwändig, besonders wenn sie selbstgesteuert stattfinden sollen. Eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte sollte hier vermieden werden.
Für gute Lernaufgaben formuliert das KMK-Papier (S. 11) viele nachvollziehbare Kriterien:
„Gute Lernaufgaben – in fachbezogenen, fachübergreifenden und fächerverbindenden schulischen Lehr- und Lernkontexten – berücksichtigen die Potenziale der Variabilität der Darstellungsformen, der Anschaulichkeit sowie der Handlungs- und Produktorientierung. Lernaufgaben bzw. Lernsituationen … tragen zum Erwerb neuer Kompetenzen bei. Solche Aufgaben sind somit kognitiv, sozial differenziert und affektiv anregend, sie ermöglichen Kreativität und verschiedene Lernwege und sie eröffnen einen langfristigen kohärenten Kompetenzaufbau und systematisiertes Üben, Vertiefen und Anwenden“.
Für kreative und produktorientierte Aufgaben wie z.B. Erstellen von Podcasts und Videos, Bildverarbeitung, Gestaltung von Websites und Onlinejournalen, Modellierungen und Simulationen ergeben sich durch digitale Medien und Werkzeuge neue Möglichkeiten.
Im Bereich Diagnose und individuelle Förderung bieten digitale Medien und Werkzeuge ebenfalls besondere Potenziale. Auch der reflektierte Einsatz von adaptiven Lernsystemen (intelligenten tutoriellen Systemen) kann für Übungsphasen eine Option sein. Solche interaktiven Lernplattformen bzw. adaptiven Lernsysteme werden zurzeit entwickelt und bereits auch an Gymnasien z.B. im Fach Mathematik erprobt. Dem Datenschutz muss in diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn es besteht die Gefahr mangelnder Transparenz über gesammelte Daten und die den Systemen zugrunde liegende künstliche Intelligenz. Allerdings wird der Einsatz solcher Systeme umso schwieriger, je komplexer die Aufgabenstellungen sind. Grundsätzlich müssen die Bildungsziele und die den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angemessenen didaktisch-methodischen Überlegungen entscheidend für den Einsatz der Medien bleiben. Das Abarbeiten digital dem Lernniveau angepasster Aufgaben darf nicht mit individueller Förderung verwechselt werden. Die Behauptung, durch den Einsatz digitaler Medien ließe sich die Chancengerechtigkeit erhöhen, ist daher skeptisch zu beurteilen. Bisher gibt es keine einschlägigen Belege dafür, sondern eher für das Gegenteil. Gesellschaftlich entstandene Probleme können nicht allein technisch gelöst werden.
Weitere Veränderungen ergeben sich durch die verstärkte Einbeziehung didaktischer Großformate wie Projektarbeit, Wochenplanarbeit, Blended Learning (besonders als flipped classroom) und (E-)Portfolioarbeit.
Für die Veränderungen in der Lern- und Aufgabenkultur muss aus Sicht des PhV NRW weiterhin ein ausgewogenes Verhältnis von herkömmlichen Unterrichtsformaten und neuen Unterrichtsformaten sowie von analogen und digitalen Lehr-Lern-Settings gewährleistet sein. So heißt es richtigerweise im KMK-Papier (S. 12): „Digitale und analoge Lehr-Lern-Settings sind mit Blick auf die Qualitätskriterien guten Unterrichts gelingend miteinander zu verbinden.“
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Weiterentwicklung der Prüfungskultur:
Die Notwendigkeit neuer Prüfungsformate ergibt sich aus den Veränderungen in der Lern- und Aufgabenkultur. Leistungsbewertung muss sich immer auf das beziehen und zu dem passen, was und wie im Unterricht gelehrt und gelernt wird. Kooperation und Kommunikation können z.B. in bisherigen schriftlichen Prüfungsformaten nicht überprüft werden.
Es geht im Kern darum, das Verhältnis von bisherigen und neuen Prüfungsformaten so zu bestimmen, dass fachliche Kenntnisse und Kompetenzen nicht zugunsten neuer übergreifender Kompetenzen zurückgedrängt werden und zugleich neue Kompetenzen wie z.B. Kooperation oder das Erstellen von digitalen Lernprodukten stärker in die Leistungsbewertung mit einbezogen werden können.
Bei asynchronen Prüfungsformaten ergibt sich das Problem, dass durch zusätzliche Lehrer-Schüler-Gespräche die eigenständige Leistung überprüft werden muss, wenn Hilfe z.B. durch Eltern zuhause nicht ausgeschlossen ist. Das KMK-Papier will daher die Reflexionsleistungen der Schülerinnen und Schüler in die Bewertung des Lernprodukts einbeziehen (S. 14): „Dies kann beispielsweise durch begründete Darstellung und Diskussion von Lösungswegen, durch die individuelle Bezugnahme zum eigenen Lernweg, durch die Reflexion der einbezogenen Informationen und durch Beschreibung der Organisation des Lösungsprozesses erfolgen. Ergänzende mündliche Prüfungen – auch Zwischenprüfungen – über den Lern- und Arbeitsprozess selbst, die über die Fokussierung auf das Produkt hinausgehen, sind hier ebenso denkbar wie begleitende Erarbeitungsportfolios, die in festgelegter Gewichtung einbezogen werden.“ Dies führt zu sehr aufwändigen Prüfungsverfahren und kann sicherlich nur in sehr begrenztem Umfang durchgeführt werden.
Bei Open-Media-Klausuren ist es schwer möglich, fachliche Kenntnisse abzuprüfen, wenn alle Hilfsmittel erlaubt sind. Hier sollen nach Vorstellungen des KMK-Papiers vor allem metakognitive Fähigkeiten überprüft werden (S. 14): „Es ist offensichtlich, dass solche Prüfungsaufgaben nicht darauf ausgerichtet sein können, Wissensbestände zu prüfen, sondern stattdessen die Art der Bearbeitung sowie die Fähigkeit der aufgabenbezogenen Materialauswertung und -nutzung in den Blick nehmen.“ Hier werden klar die Grenzen solcher Prüfungsformate benannt. Denkbar wären aber auch zweigeteilte Aufgaben, bei denen in einem Teil Hilfsmittel zulässig sind, in einem anderen Teil nicht, wie es z.B. im Fach Mathematik in Bezug auf den GTR gehandhabt wird.
Grundsätzlich ist es technisch bereits möglich, z.B. den Zugang zum Internet zu begrenzen, auch wenn die Klassenarbeit oder Klausur auf einem digitalen Endgerät ausgeführt wird. Dieser Ansatz wird sicherlich in Zukunft an Bedeutung zunehmen.
Zu digitalen Lernprodukten als Leistungsnachweise finden sich im Zwischenbericht des Schulversuchs „Prüfungskultur innovativ“ in Bayern bereits zahlreiche Beispiele, die in gewissem Umfang auch in NRW realisierbar wären.
In NRW finden sich auf der Seite „pruefungskultur.org“ ebenfalls Beispiele für neue Prüfungsformate, die aus unserer Sicht gute Ansätze enthalten, allerdings nicht alle notwendigen Kriterien für Prüfungsformate erfüllen.
Es ist darauf zu achten, dass die Konzeption und Durchführung neuer Prüfungsformate nicht zu einer erhöhten Arbeitsbelastung für die Kolleginnen und Kollegen führen und dass die aus Sicht des PhV NRW wesentlichen Kriterien der Leistungsbewertung eingehalten werden können.
Folgende Kriterien und Vorgaben für mündliche und schriftliche Prüfungsformate halten wir für unverzichtbar:
- Beibehaltung der bekannten pädagogischen (Rückmeldung, Motivation, Bericht) und gesellschaftlichen Funktionen (Kontrolle, Berechtigung, Allokation und Selektion) der Leistungsbewertung
- Beibehaltung der individuellen, sozialen und curricularen Bezugsnormen als Maßstäbe der Leistungsbewertung
- Allgemeine Studierfähigkeit als Ziel gymnasialer Bildung
- Ausrichtung der Prüfungsformate auf die Abiturprüfungen
- Gleichwertigkeit der Aufgabenstellungen
- Erstellung und Durchführung von in der Regel synchronen, zeitlich begrenzten Prüfungen
- Gewährleistung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Sinne der Chancengleichheit und Vergleichbarkeit der Schülerleistungen
- Gewährleistung der nachvollziehbaren Eigenständigkeit der Schülerleistungen
- Sicherstellung der Justiziabilität
- Transparenz von Lern- und Leistungssituation sowie der Bewertungskriterien
- Bezug zu den Fachwissenschaften im Sinne der Wissenschaftspropädeutik
- Beibehaltung von Kompetenzorientierung immer in Verbindung mit Inhaltsorientierung
- Sicherung der fachlichen Kenntnisse und Kompetenzen
- Einbeziehung der im Zusammenhang mit der Digitalisierung verstärkt hervorgehobenen Kompetenzanforderungen (Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken und Kommunikation; metakognitive Fähigkeiten und Reflexionsleistungen)
- Beibehaltung von Noten im Sinne einer transparenten Leistungsbewertung bei der Rückmeldung an Schülerinnen und Schüler sowie an Eltern zur Diagnose des individuellen Lernerfolgs
- Beibehaltung der SoMi-Note als geeignetes Beurteilungsinstrument für den Prozess (z. B. bei Lernaufgaben/produktorientierten Aufgaben/Prozessdiagnose/…) und der Klassenarbeits-/Klausurnote für das Produkt
- Diagnose und individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler, die pädagogisch fundiert ist und sich nicht allein auf digitale Lernsysteme beschränkt
- Sicherung von Qualität und Leistungsstandards
- Vermeidung von Überlastung: Prüfungsformate müssen von Schülerinnen und Schülern gut vorzubereiten und von Lehrkräften ohne zusätzliche Mehrbelastung zu konzipieren und durchzuführen sein.
Die wichtigsten Kriterien im Zusammenhang mit neuen Prüfungsformaten sind sicherlich der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Sicherstellung der Eigenständigkeit der zu bewertenden Leistung.
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Bildungspolitische Forderungen
Aus den genannten Überlegungen ergeben sich folgende Forderungen im Zusammenhang mit den Veränderungen im Bereich der Lern-, Aufgaben- und Prüfungskultur:
- Pädagogische Freiheit und Verantwortung der Lehrkräfte weiterhin garantieren
- Qualität gymnasialer Bildung sichern
- zusätzliche Belastungen und Überforderungen von Schülerinnen und Schülern sowie der Lehrkräfte durch neue Prüfungsformate vermeiden
- Vergabe von Abschlüssen auf Grundlage individuell erbrachter Leistungen sicherstellen
- Erkennbarkeit individueller, eigenständiger Leistungen auch bei kollaborativen und offenen Prüfungsformaten gewährleisten
- ergebnisoffene wissenschaftliche Begleitung und Erprobung neuer Prüfungsformate organisieren
- fachspezifische Besonderheiten im Zusammenhang neuer Prüfungsformate (z.B. in den Fremdsprachen) beachten
- keinen Verlust von Fachwissen und fachlichen Kompetenzen zugunsten von digitalisierungsbezogenen und informatischen Kompetenzen zulassen
- Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit sicherstellen