Bericht der Enquetekommission weckt unrealistische Erwartungen
- Abschlussbericht der Enquetekommission I mit richtigen Ansätzen
- Fokus allein auf Mindeststandards widerspricht Zielen des Schulkompass‘
- Fragen nach Machbarkeit und Ressourcen nicht beantwortet
Düsseldorf, 8. Oktober 2025. Seit wenigen Tagen liegt der Abschlussbericht der Enquetekommission I („Chancengleichheit in der Bildung“) vor, in dem der nordrhein-westfälischen Philologenverband (PhV NRW) viele gute Ansätze und Empfehlungen sieht, aber auch Punkte, die aus unserer Sicht deutlich verbesserungswürdig sind. Denn schon der Titel des Abschlussberichtes weckt Erwartungen, die wir als PhV NRW so nicht teilen können. „Gleichheit kann es im Bildungsbereich nicht geben, sehr wohl aber Chancengerechtigkeit“, sagt die PhV-Vorsitzende Sabine Mistler. „Dieser Anspruch ist richtig und wichtig, und diesem Sinne würdigen wir die Empfehlungen der Enquetekommission.“
Der vorliegende Bericht ist nicht nur ausgesprochen umfangreich, sondern bildet die vielfältigen, zum Teil unterschiedlichen und sogar widersprüchlichen Haltungen und Schwerpunkte der beteiligten Parteien ab. Für den PhV liegt der Blick vor allem auf den Handlungsempfehlungen, die wir zwar nicht alle teilen, die aber in wesentlichen Punkten wichtige und richtige Akzente setzen. Dazu gehören insbesondere:
- Frühe Bildung: Ein Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung und Grundschulen – mit besonderem Augenmerk auf die Beherrung der deutschen Sprache. Denn klar ist: Fehlende Basiskompetenzen lassen sich in der späteren Schullaufbahn kaum aufholen.
- Vielgliedrigkeit: Die Betonung individueller Voraussetzungen und Fähigkeiten bei Schülerinnen und Schülern und die sich aus PhV-Sicht daraus ergebende Forderung, das vielgliedrige und durchlässige Schulsystem in NRW nicht nur zu erhalten, sondern zu stärken.
- Wahlfreiheit: Förderschulen und zieldifferent arbeitende Schulen stehen gleichberechtigt nebeneinander, sodass Eltern beim Übergang zu weiterführenden Schulen eine echte Wahlmöglichkeit für ihre Kinder haben.
- Kommunale Öffnung bei der Schulwahl: Schülerinnen und Schüler sollen auch kommunenübergreifend verteilt werden können, auch das ist ein Beitrag zur Wahrung echter Wahlmöglichkeiten und zur Sicherung von Vielfalt im Schulsystem.
- Elternmitwirkung: Verpflichtende Beratungsgespräche für Eltern, aktive Teilnahme am Schulleben und Mitverantwortung in der Bildungs- und Erziehungsarbeit als zentrale Bausteine für erfolgreiche Schullaufbahnen.
Kritikpunkte und offene Fragen
Neben den positiven Ansätzen enthält der Bericht jedoch auch zahlreiche Punkte, die wir kritisch sehen:
- Leistungsbewertung: Einerseits wird ein positives Lernklima durch alternative Prüfungsformate gefordert, andererseits aber auf verbindliche Lernzielkontrollen mit Standards verwiesen. Das ist widersprüchlich, weil unklar bleibt, was eigentlich gewünscht ist: Vergleichbarkeit oder Standardorientierung? Freiräume oder klare Maßstäbe?
- Gymnasiale Oberstufe: Die vorgeschlagenen modularen Strukturen („Lernen im eigenen Takt“) stehen im Widerspruch zu den Ansprüchen an Vergleichbarkeit, Leistungsorientierung und Abiturstandards. Echte Studierfähigkeit muss aus PhV-Sicht Maßstab bleiben.
- Leistungsprinzip: Durch Öffnungen und Flexibilisierungen in der Oberstufe drohen Vergleichbarkeit und Leistungsorientierung ausgehebelt zu werden.
- Datensammlungen: Unterrichtsentwicklung soll künftig vor allem über Datensammlungen, Evaluationen und Zielvereinbarungen gesteuert werden. Bildung wird dadurch nicht umfänglich erfasst, und ohne zusätzliche Ressourcen für Lehrkräfte und Schulen bleibt dies eine unrealistische Erwartung.
- Chancengerechtigkeit: Der PhV teilt die im Schulkompass formulierten Ziele des MSB – insbesondere die Reduzierung der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards nicht erreichen. Völlig ausgeblendet bleibt jedoch das zweite Ziel: die Erhöhung der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Optimalstandards erfüllen. Sabine Mistler: „Chancengerechtigkeit muss alle Leistungsniveaus im Blick behalten, auch leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler dürfen nicht vergessen werden.“
- Digitalisierung/Distanzunterricht: Die Ausweitung von Distanzlernformaten darf nicht dazu führen, dass der Sozialraum Schule geschwächt wird. Distanzunterricht muss die Ausnahme in eng definierten Grenzen und Lehrkräfte müssen weiter im Zentrum des Lernprozesses stehen.
- Schulleitungsassistenz: Eine Ausweitung administrativer Unterstützung ist sinnvoll. Jedoch darf dies nicht zulasten von Schulleitungsstellen gehen; zusätzliche Kräfte können nur unterstützend wirken.
- Personalversorgung: Eine ausschließlich am Sozialindex einzelner Schulen orientierte Lehrkräfteverteilung greift zu kurz. Auskömmliche und fachlich qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer braucht es an allen Schulen, unabhängig von Standort und Schülerschaft.
- Fortbildungen: Der PhV befürwortet eine Stärkung der Fortbildung. Allerdings fehlen klare Priorisierungen. Die Enquetekommission listet zahlreiche neue Aufgaben und Verpflichtungen auf, ohne Ressourcenfragen zu klären. Für die gymnasiale Oberstufe essenzielle Fachfortbildungen werden nicht aufgeführt.
Erstes Fazit
„Der Abschlussbericht der Enquetekommission enthält gute Ansätze, die den Anspruch auf mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung stützen“, sagt Sabine Mistler. „Gleichzeitig bleiben zentrale Fragen offen: Wie können Standards und Vergleichbarkeit gesichert werden? Wie wird die notwendige Balance zwischen Förderung und Forderung gewährleistet? Und wie sollen die zahlreichen neuen Aufgaben ohne zusätzliche Ressourcen realisiert werden, wenn die Zeit für Pädagogik und Bildung ohnehin an vielen Stellen fehlt?“ Zudem bedürfen die vielen Vorhaben einer klaren Priorisierung. Für den PhV ist klar: Chancengerechtigkeit bedeutet, a l l e Schülerinnen und Schüler im Blick zu haben – sowohl jene, die noch nicht die Mindeststandards erreichen, als auch jene, die die Optimalstandards anstreben.